Bochum. “Wir haben das Sterben verlernt“: Der Bochumer Medizinethiker Jochen Vollmann ist gegen Heilserwartungen an die Medizin. Was sich ändern muss.

Arznei-Cocktails mit wuchtigen Effekten oder kleinteiligste Genuntersuchungen in der Krebstherapie: Die moderne Medizin leistet viel, vergisst aber oft eines – den Menschen. So sieht es Jochen Vollmann, Professor an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Buch „Die Galle auf Zimmer 7“ zeigt, was sich in der Gesundheitspolitik und in den Köpfen ändern muss, damit das alternde Deutschland die Medizin erhält, die es benötigt. Der Medizinethiker im Interview.

Herr Vollmann, haben wir das Sterben verlernt?

Ja. Wir haben zu viel an die moderne Medizin delegiert – und die ist besonders gut darin, den Tod zu verhindern. Der größte Erfolg in der Geschichte der Heilkunde ist die Nutzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in der modernen Medizin. Es gibt heute eine unglaubliche Heilserwartung an diese Medizin. Aber bei Alter und Gebrechlichkeit, chronischen Erkrankungen oder beim Sterben macht sie keine guten Angebote. Erst in den letzten gut 15 Jahren ist man in Deutschland durch die Palliativmedizin besser geworden im Begleiten und Ermöglichen von Sterben.

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Sie fordern also mehr Palliativmedizin, anstatt noch mehr Fortschritt in der hochtechnisierten Medizin?

Die Palliativmedizin ist ja auf schwerkranke Patienten mit einer begrenzten Lebenserwartung ausgerichtet. Diese Bedürfnisse, die ein Patient am Lebensende hat, hat er aber auch Jahre zuvor. Warum werden diese Bedürfnisse nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt befriedigt? Wir brauchen also nicht nur mehr Palliativmedizin, sondern grundsätzlich eine Medizin, die mit sozialen oder psychologischen Angeboten die Bedürftigkeit von Patienten besser berücksichtigt.

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Heutzutage schmücken sich Kliniken oft mit Angeboten einer „maßgeschneiderten“ oder „personalisierten“ Therapie. Was ist so eine Bezeichnung wert, wenn man den Menschen offenbar nicht im Blick hat?

Die personalisierte Medizin ist ein Etikettenschwindel. Mit den individuellen Bedürfnissen einer Person hat sie wenig zu tun. In den Krankenhäusern spricht man ja deswegen davon, die „Galle auf Zimmer 7“ zu behandeln, weil nicht Frau Müller im Vordergrund steht – sondern ihre Organe. Die moderne Medizin funktioniert am besten, wenn ein junger Mensch mit einer akuten Blinddarmentzündung in die Klinik kommt. Dann wird er operiert, nach zwei Tagen wieder entlassen – und nur noch eine kleine Narbe erinnert an seine lebensbedrohliche Situation.

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So einem Patienten wäre es doch glatt egal, wenn er nicht mit seinem Namen angesprochen wird, sondern für den Arzt nur „der Blinddarm auf Zimmer 6“ ist. Ihm wird ja geholfen.

Ja, nur sind heute die meisten Patienten weder jung noch haben sie eine einzige Krankheit. Unsere Gesellschaft wird immer älter. Deshalb brauchen wir mehr Angebote in der Altersmedizin, der Geriatrie. Bei meinen Studenten hebt aber kaum jemand die Hand, wenn ich sie frage, wer später mal dort arbeiten möchte. Das hat auch damit zu tun, dass wir die Heiler der Nation vor allem nach dem Abi-Notendurchschnitt auswählen – und nicht nach anderen Kompetenzen wie empathischen Fähigkeiten. Man darf sich dabei nicht wundern, wenn man so wenig Hausärzte, Landärzte, Kümmerer mit dem Herz am rechten Fleck bekommt - sondern karriereorientierte Menschen, die zur modernen Medizin passen. Da muss die Politik gestalten.

Tut sie es?

Sie ist vereinzelt auf dem Weg, zum Beispiel. in NRW mit der Gründung einer neuen medizinischen Fakultät in Bielefeld, die ihren Schwerpunkt auf Gesundheitsversorgung und chronische Erkrankungen setzt. Damit will die Politik die ärztliche Versorgung in Ostwestfalen verbessern und neue Forschungsschwerpunkte fördern.

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Man braucht also nicht nur mehr spezialisierte Fakultäten in den Großstädten, sondern mehr allgemeinmedizinische Ausbildung auf dem Land?

Es ist ein Teilaspekt. Ein anderer ist, sich den veränderten Bedürfnissen junger Ärztinnen anzupassen – und ich sage bewusst Ärztinnen, weil der größte Teil der Medizin-Studierenden heute weiblich ist. Viele von ihnen möchten sich nicht niederlassen. Die Einzelpraxis ist für sie ein Auslaufmodell, sie wollen mit flexiblen Arbeitszeiten angestellt und im Team arbeiten. Das ermöglicht einen neuen politischen Gestaltungsspielraum! Man sollte viel mehr medizinische Versorgungszentren, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit öffentlichen Krankenhäusern, einrichten. Dort könnten die Ärztinnen angestellt sein, gerne in der Großstadt leben, aber einmal in der Woche für die Außensprechstunden in ländliche Bezirke fahren. So machen die jungen Ärztinnen und Ärzte mit – und so kann die Bevölkerung auch zukünftig gut versorgt werden.

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Das wären strukturelle Lösungen. Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch: „Je schwächer der persönliche Bezug des modernen Menschen zu Glaube, Religion oder Lebenssinn wird, desto stärker lasten überzogene Erwartungen auf der modernen Medizin.“ Muss auch der einzelne Mensch umdenken, damit wir eine sorgende Medizin bekommen?

Man muss die Bürger ermutigen, selbst Lösungen zu finden – und muss ihnen dafür die richtigen Gestaltungsinstrumente geben. Ein positives Beispiel dafür ist die vorausschauende Versorgungsplanung mit Hilfe einer Patientenverfügung. Sie ist eine gute Antwort der Bürger darauf, dass wir der naturwissenschaftlichen Medizin allein nicht bis zum Schluss vertrauen. Viele Patienten möchten am Lebensende nicht alle Möglichkeiten der modernen Medizin nutzen. Deshalb wird die Patientenverfügung ja genutzt, auch im Kaffeekreis meiner Mutter wird darüber diskutiert. Sie ermöglicht, eigenverantwortlich und lebensnah über den Tod zu sprechen und nicht nur fachmedizinisch. Und da gehört das Thema auch hin: Mitten ins Leben.

Prof. Dr. Dr. Jochen Vollmann ist seit 2005 Direktor des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum. Der 56-jährige, gebürtige Dortmunder ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Sein Buch „Die Galle auf Zimmer 7. Welche Medizin wollen wir?“ (128 Seiten) ist im Wagenbach Verlag Berlin erschienen.