Waltrop/Witten. NRW führt zum Wintersemester die „Landarztquote“ ein. Paula Kohlschein (24) aus Waltrop bewarb sich – und besiegelt so ihre Zukunft.
Paula Kohlschein hatte sich gerade damit abgefunden: dass sie ihren Traumberuf nie ausüben, dass sie niemals Ärztin sein würde. Jahrelang hatte sich die 24-Jährige um einen Studienplatz für Medizin beworben – und Absage um Absage kassiert. Ihr Abi-Schnitt von 2,1 ist kein schlechter, aber er reichte nicht. Sie entschied sich für eine Ausbildung in der Pflege, machte ihr Examen als Krankenschwester. Es reichte immer noch nicht. Wenige Tage nachdem sich die junge Frau aus Waltrop für einen neuen Weg entschieden und sich im Frühjahr an der Uni Witten/Herdecke für das Fach „PPÖ“ (Philosophie, Politik & Ökonomik) eingeschrieben hatte, stellte Landes-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann die „Landarztquote“ vor. Nun sieht es so aus, als ob Paula Kohlschein doch noch Ärztin werden könnte. Irgendwo auf dem Land. Da, wo Ärzte am dringendsten fehlen.
1312 Abiturienten bewarben sich auf einen der 145 Studienplätze
Hintergrund: Hausarztmangel auf dem Land
Mehr als die Hälfte der rund 11.000 Hausärzte in NRW sind schon heute älter als 55 Jahre, 1250 sogar älter als 65. Auf dem Land ist die Situation besonders angespannt: Dort sind bereits zwei Drittel der Hausärzte über 60.
Doch während Jahr für Jahr rund 400 Hausärzte in den Ruhestand gehen, rücken jährlich nur 200 neue Allgemeinmediziner nach. Die Unis bilden jährlich nur rund 2000 Ärzte aus – und nur wenige von ihnen wollen Hausarzt werden.
Das NRW-Gesundheitsministerium sieht schon heute in 120 ländlichen Gemeinden die hausärztliche Versorgung akut oder absehbar gefährdet.
NRW ist das erste Bundesland, das die „Landarztquote“ einführt. Zum Wintersemester 2019/2020 werden 7,6 Prozent aller Medizinstudienplätze an den staatlichen Hochschulen des Landes über diese Quote vergeben. Das sind etwa 145 Plätze. 1312 Abiturienten bewarben sich im Frühjahr darauf, darunter Paula Kohlschein. Die Bewerber verpflichten sich, nach dem Studium und der Weiterbildung zum Facharzt zehn Jahre in einer unterversorgten Region als Hausarzt zu arbeiten. Brechen Sie diesen Vertrag, müssen sie 250.000 Euro Strafe zahlen.
Paula Kohlscheins Chancen auf einen Medizin-Studienplatz stehen derzeit 50:50. Aus den 1312 Bewerbern wählte das zuständige Landeszentrum für Gesundheit in Bochum (LZG) zunächst 290 aus. Berufliche Erfahrung fiel dabei schwerer ins Gewicht als die Abinote. Paula Kohlschein und 289 andere lud man ein zur Runde zwei: „strukturierten“ Gesprächen in Münster, wo es vor allem um Sozialkompetenz und Empathie der Kandidaten ging. „Hammerharte zwei Tage“, sagt Paula Kohlschein. Noch im Juli will das LZG über seine Entscheidung informieren, die endgültige Zu- oder Absage wird im August von der Stiftung für Hochschulzulassung verschickt.
Ein gutes Abi, aber keine Chance auf einen Studienplatz für Medizin im Doppeljahrgang 2013
Paula Kohlschein wartet entspannt darauf. Ihr PPÖ-Studium in Witten gefällt ihr; sie könnte sich gut vorstellen, darauf eine Zukunft aufzubauen. Doch eigentlich: will sie Ärztin werden. „Seit ich denken kann“, erinnert sich die gebürtige Warburgerin. Der Hausarzt der Familie sei „ein tolles Vorbild“ gewesen. „Ich war nicht oft krank, aber ich bin gern und immer voller Vertrauen zu ihm gegangen. Und mit 13 befand ich: Den Job möchte ich auch können.“ Zielorientiert wählte sie Biologie als Leistungskurs, bewarb sich nach dem Abitur an den Hochschulen mit dem niedrigsten NC für Medizin. Doch als Abiturientin im Doppeljahrgang 2013hatte sie keine Chance. Also lernte sie Krankenschwester, betreute Palliativpatienten in der Onkologie des Rüttenscheider Alfried-Krupp-Krankenhauses in Essen, wechselte dann in das Hospiz nach Steele. Heute arbeitet sie – neben dem Studium – auf der Intensivstation des Klinikums Dortmund-Nord. „Pflege macht Spaß“, fand sie heraus – obwohl sie „belastende, schreckliche Situationen“ erlebte, für die sie „keine Worte, keine Gesten hatte, die es einfach nur auszuhalten galt“. Heute sagt sie: „Pflege ist eine sehr wichtige, sinnvolle und erfüllende Aufgabe, der vielleicht schönste Beruf der Welt.“
250.000 Euro Strafe drohen bei Brechen des Vertrags
Nur nicht für sie. „Ich bin zu neugierig“, stellte Paula Kohlschein irgendwann fest. Sie wollte verstehen, wie die Ableitungen im EKG zu erklären waren. Wenn der Arzt eine OP anordnete, wollte sie wissen: warum diese und keine andere? Wenn er ein Medikament verschrieb, fragte sie: Warum dieses und nicht jenes? „Ich hatte einfach zu viele Fragen, die offen blieben“, erinnert sich die junge Frau. Und deshalb bewarb sie sich im Frühjahr erneut um einen Studienplatz für Medizin. Über die Landarztquote. Wäre es eine „Herz-Thorax-Chirurgen-Quote“, versichert sie, „hätte ich es nicht getan.“ Aber sie, die auf dem Land aufwuchs, will wieder dahin zurück. „In zehn Jahren“, sagt sie, „werde ich auf dem Land leben. So oder so.“ Die Verpflichtung, die sie mit ihrer Bewerbung einging; die 250.000 Euro Strafe, die ihr drohen, sollte sie keine zehn Jahre aushalten, empfindet sie nur als kleinen „Schatten“ über ihrer Zukunft. Der Vertrag ist unterschrieben, bis Anfang Juli hätte sie noch zurücktreten können, ohne zahlen zu müssen. Sie tat es nicht.
Doch woher nimmt eine 24-Jährige die Zuversicht, sich darauf festzulegen, wo und wie sie mit 44 leben wird? Woher weiß sie, dass sie nach sechs Jahren Studium und fünf Jahren Weiterbildung mindestens zehn Jahre lang Hausarzt irgendwo da sein will, wo es sonst niemand sein will? Was, wenn es den Freund, der dann vielleicht Ehemann ist, beruflich in die Großstadt verschlägt? Wie wird sie die Betreuung der Kinder, die sie haben will, organisieren – die Quote verlangt zehn Jahre in Vollzeit? „Ich weiß“, sagt Paula Kohlschein entspannt. „Das sind Jahre, in denen viel passiert. Und man weiß nie, was passiert. Aber ich mag das Land, ich mag NRW und der Mangel an Hausärzten ist so groß, da gibt es reichlich Auswahl.“ Alles andere werde sich finden: „Ich kann mich anpassen, bin flexibel.“
Niemand riet: Lass es.
Paula Kohlschein ist eine ruhige, überlegte Frau. Sie denkt nach, bevor sie spricht. Und ganz sicher, bevor sie handelt. Auch die Entscheidung, sich auf die Landarztquote zu bewerben, hat sie sich nicht leicht gemacht; vorher Freunde, Familie und Arbeitskollegen um Rat gebeten. „Es gab niemanden“, sagt sie, „der mir gesagt hat, lass es! Alle sagten: Das ist doch genau das, was du schon immer machen wolltest.“
Also tat sie es.
Ihren alten Hausarzt in Warburg wird es freuen. Er ging jüngst in Rente.
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Für das Sommersemester 2020 werden 25 weitere Studienplätze über die Landarztquote vergeben. Bewerbungen sind ab 1. September möglich. Weitere Info: www.lzg.nrw.de/lag/