Essen. Auch mit tödlicher Krankheit können die Tage leicht sein. Dafür geben die Schwestern auf der Palliativstation in Essen-Mitte ihre volle Energie.
Als Vanessa Perne den Beutel ihres grünen Tees abtropft, hallt Klassikmusik durch die Palliativstation. Patientin in Zimmer 9 dirigiert wieder. Und stimmt die Pflegerin aus Essen und ihre Kollegin Cornelia„Conny“ Baudach auf einen „hoffentlich ruhigen“ Nachtdienst ein. Für Schwester Vanessa ist es ihr letzter.
Sie zieht sich den blauen Schlupfkasack an, der gelbe Anstecker mit dem grinsenden Smiley darf nicht fehlen. „Seit zwei, drei Jahren trage ich ihn. Ein Geschenk von einer Patientin“, sagt die 27-Jährige – Pferdeschwanz, braune Brille, die Augenringe leicht verdeckt durch die Naturschminke.
20.30 Uhr, Übergabe in der Dienstküche. Eine elektronische Kerze flackert, während die Schwestern Tabellenzeilen mit den elf Patientennamen durchgehen. Das Kunstleuchten gedenkt einem Menschen, der am Tage zuvor verstarb. Elf Tage werden die Patienten in der Palliativstation der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte durchschnittlich versorgt. Manche verlassen die Station, einige ihr Leben. Auch an den letzten Tagen soll es einschönes sein.
Erfüllte und unerfüllte Wünsche
„Viele kommen mit einem Schock zu uns“,erzählt Vanessa Perne. „Die meisten haben auf einer anderen Station gesagt bekommen: Wir können nichts mehr für Sie tun. Aber nur weil eine Chemo- oder Strahlentherapie nicht anschlägt, heißt das nicht, dass wir nichts tun können.“ „Palliativpatienten leben länger“, macht Schwester Vanessas fast doppelt so alte Kollegin Conny mit sächsischem Akzent klar. „Wir geben ihnen Lebensmut zurück.“
Es geht darum, Symptome abzuschwächen, Schmerzen zu lindern und vor allem: Ängste zu nehmen. „Ja, die Leute haben unheilbare Krankheiten, aber sie haben ersteinmal Angst, die heutige Nacht nicht mehr zu überstehen“, sagt Vanessa Perne. „In manchen Nächten verbringen wir Stunden in einem Zimmer und reden mit den Patienten“, erzählt Schwester Conny.
Häufig geht es dann um erfüllte Wünsche, unerfüllte Träume im Leben – und die innere Verzweiflung. „Tagsüber haben die Patienten Ablenkung durch die Angehörigen. Abends sacken die Dinge“, sagt Conny Baudach mit dem Pausenkaffee auf der verregneten Stationsterrasse.
Weihnachtssocken als Geschenk
21.30 Uhr, der erste Kontrollgang durch die elf Zimmer startet. Wer braucht Gespräche, Schmerzmedikamente, Klassikmusik? Alle Patienten sind über 70 und haben Tumore. Viele sind bettlägerig, manche mobil. Die Schwestern starten Infusionen, lagern um,verabreichen Schmerzmittel, streicheln über Hände. Fast jeder schläft, die Dame in Zimmer 6 sehr bald für immer.
Ihre Situation ist kritisch, aber sie ist friedlich. Die Dame liebte die Bewegung, spielte einst hochklassig Fußball. Sie liegt schon zum dritten Mal auf der Station, lebt schon lange mit dem Krebs. „Hart, aber herzlich“ nennt sie das Pflegeduo. „Bei ihr muss man sich liebevoll aufdrängen.“
Danach: Alles muss dokumentiert werden. Aber zwischendurch – der letzten Schicht angemessen – bleibt Zeit, die vergangenen Jahre zu erinnern. Und Menschen wie die Dame, die Vanessa Perne nicht nur den Smiley-Anstecker schenkte, auch selbstgestrickte Weihnachtssocken samt Waschanleitung. „Auf anderen Stationen baut man keine so enge Bindungen zu den Patienten auf“, sagt sie. „Man bekommt einen Rieseneinblick in das Leben der Leute.“
Anders wäre er auch nicht zu erfüllen, der Anspruch, den Menschen noch einmal alles zu ermöglichen. Große Hochzeiten haben sie auf der Station gefeiert, runde Geburtstage und Weltmeisterschaften. Manch einem Patienten haben sie den letzten Besuch zum Strand ermöglicht.„Engel“ werden die Pflegekräfte häufig von den Patienten genannt.
Trotzdem hört Schwester Vanessa im Nachtdienst auf, wechselt nach fünf Jahren in die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung, kurz SAPV. Dort betreut sie Palliativpatienten, die zu Hause versorgt werden. Ausschließlich tagsüber. „Die Nächte sind nichts für meinen Biorhythmus“, sagt sie. Ganz anders ihre ältere Kollegin. „Ich war schon immer ein Nachtvogel.“
Eine Routine der Würde
Keine Zeit mehr für Plausch. Längst ist es Mitternacht. Inzwischen sorgen Oldies aus dem Küchenradio für Kulisse. Aus den Mündern im Dienstzimmern das erste Gähnen, das Pflegeduo verliert sich in der Papierarbeit. Und blickt immer wieder in Zimmer 6. Die Fußballspielerin atmet ruhig. Immer ruhiger. Dann nicht mehr.
Sorgende Medizin
Die Palliativmedizin ist ein noch junges medizinisches Gebiet und setzt die Leidensverringerung bei Patienten mitbegrenzter Lebenserwartung in den Mittelpunkt. ist als Leiterin der Klinik für Palliativmedizin der Huyssens-Stiftung der Evangelischen Kliniken Essen-Mitte eine der ersten Palliativ-Expertinnen Deutschlands. Ihr Credo: „Wir brauchen mehr sorgende Medizin, sonst verkommt der Mensch zu einer reparaturbedürftigen Maschine.“
Kern ihrer Abteilung ist die ganzheitliche Betrachtung. Neben der Palliativklinik ist hier auch die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) und das Institut für Palliative Care angesiedelt, über das Apotheker, Pflegekräfte und Mediziner ausanderen Bereichen weitergebildet werden. Ein Netzwerk aus Fördervereinen und Angebote wie Kunsttherapie befinden sich ebenfalls unter dem Dach.
Für das Pflegeduo beginnt eine Routine der Würde. Stumm, hochkonzentriert schreiten sie in das Zimmer, entfernen jegliche Medizintechnik, Katheter, Infusionen. Alle Habseligkeiten der Verstorbenen packen sie in einen Koffer, zupfen ihr schwarzweißgestreiftes Oberteil zurecht. Vanessa Perne geht in den Flur, zwackt einem Blumenstrauß bunte Blüten ab und verteilt sie auf dem Bett. Ein gemaltes Bild der Enkeltochter stellt Cornelia Baudach zwischen Engelsfigur und einer elektrischen Kerze auf.
In 15 Minuten ist Zimmer 6 verwandelt. Das Krankenzimmer wurde heimatlich. „Erleichtert“ ist Schwester Conny. „Sie ist ganz ruhig, ohne Komplikationen eingeschlafen.“
Das Radio mit den Gute-Laune-Oldies läuft in dieser Nacht nicht länger.
Einen „schönen Tod“ wird es auch die diensthabende Ärztin nennen, als sie aus dem Bereitschaftszimmer gerufen wird. Ihre Aufgabe ist es, die Angehörigen zu kontaktieren. Der Mann, der Sohn, sie sind gegen 3 Uhr da. Sind gefasst.
Wertschätzung für kleine Dinge
Auch beim nächsten Rundgang um 5 Uhr bleibt es unaufgeregt. Aus manchen Zimmern duftet es nach ätherischen Ölen. Ein Herr hat einen auffällig brodelnden Husten. Das Duo versucht seine Bronchien freizusaugen, hält dabei seine Hand, erklärt ihm sanft jeden Schritt – obwohl er abwesend ist. Er soll wieder aufgepäppelt werden, nicht auf der Station bleiben. Fälle wie die Fußballspielerin sind zwar Alltag, die Rückkehr nach Hause aber auch. „Wir sind keine Sterbestation“, sagt Schwester Vanessa.
Nach dem Rundgang erneut Papiere. Dass der Husten gut beobachtet werden muss, werden die Schwestern aufschreiben. Die Vögel hört man schon zwitschern. Solch kleine Dinge haben die Pflegerinnen durch den Job mehr schätzen gelernt. Ihre elfjährige Tochter hat Conny Baudach mit dem Blick fürs Kleine schon angesteckt. „Wir stecken unsere Nasen gemeinsam in kleine Vorgartenblümchen“, sagt sie mit einem leichten Lachen.
Vanessa Perne spricht von ähnlicher Prägung. Sich wegen Nichtigkeiten aufzuregen, sei für sie inzwischen ein Unding. „Mit der eigenen Endlichkeit habe ich mich schon oft befasst“, sagt sie. Und entfernt kurz danach den grinsenden Anstecker zum letzten Mal von der Pflegekleidung. Die Kollegen vom Frühdienst schalten das Radio an. Die Kerze im Dienstzimmer brennt für die Fußballspielerin aus Zimmer 6.
Das ist ein Artikel aus der digitalen Sonntagszeitung.