Düsseldorf. . Ein breites Bündnis bläst zum Frontalangriff auf Schulministerin Yvonne Gebauer. Sie habe die Menschen beim Thema Inklusion bewusst getäuscht.

Ein Bündnis aus Gewerkschaftern, Behindertenverbänden und Schülern wirft der NRW-Regierung eine „Täuschung der Öffentlichkeit“ bei der Inklusion vor. Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung funktioniere heute noch schlechter als vor der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb. Überall fehle Personal, noch immer seien Klassen zu groß.

Bisher habe das Schulministerium keine der versprochenen Qualitätsverbesserungen eingelöst. Die „Neuausrichtung der Inklusion“ führe bisher nur zu Verunsicherung und weniger gemeinsamem Lernen, sagte Dorothea Schäfer von der Gewerkschaft GEW. Schlimm findet das Bündnis, dass sich Gymnasien aus dem gemeinsamen Lernen zurückziehen dürfen.

Sie sprachen am Freitag im Landtag für das Bündnis für inklusive Bildung in NRW: Bernd Kochanek, Vorsitzender des Vereins Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V., Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der GEW, und Nikolaj Grünwald, Vorstandsmitglied der Landesschülervertretung
Sie sprachen am Freitag im Landtag für das Bündnis für inklusive Bildung in NRW: Bernd Kochanek, Vorsitzender des Vereins Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V., Dorothea Schäfer, Landesvorsitzende der GEW, und Nikolaj Grünwald, Vorstandsmitglied der Landesschülervertretung © Federico Gambarini/dpa

Vor Kurzem hatten Schulleiter der NRW-Schulpolitik insgesamt nur eine Vier gegeben.

„Bewusste Täuschung“

Ist die versprochene „Neuausrichtung der Inklusion“ in NRW etwa nur eine Nebelkerze? Am Freitag kritisierten Sprecher des aus 40 Organisationen bestehenden „Bündnisses für inklusive Bildung in NRW“ jedenfalls heftig die Art, wie die Landesregierung mit dem Gemeinsamen Lernen umgeht.

Der Sprecher des Verbandes „Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen“, Bernd Kochanek, warf NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) sogar eine „bewusste Täuschung der Öffentlichkeit“ vor. „Sie redet von Qualität, aber sie tut nichts dafür“, sagte Kochanek im Landtag. Besonders übel nimmt das Bündnis, dass NRW es den Gymnasien ermöglicht, per Schulkonferenzbeschluss aus dem Gemeinsamen Lernen auszusteigen.

Gymnasien verabschieden sich von der Inklusion

Der Ausstieg der Gymnasien führe am Ende zu einer „Spaltung der Schullandschaft“ und zu neuen Belastungen für die anderen weiterführenden Schulformen, glaubt Dorothea Schäfer, die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Haupt, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen müssten dann zusätzliche Klassen bilden.

In den Gymnasien, die sich vom gemeinsamen Unterricht verabschieden, sollen alle Schüler zum gleichen Lernziel geführt werden – Kinder mit und Kinder ohne Behinderung.
In den Gymnasien, die sich vom gemeinsamen Unterricht verabschieden, sollen alle Schüler zum gleichen Lernziel geführt werden – Kinder mit und Kinder ohne Behinderung. © Holger Hollemann/dpa

Zwar gibt es keine Zahlen, wie viele Gymnasien sich tatsächlich von der Inklusion verabschieden wollen, aber Indizien deuten auf größeres Interesse hin. „In Dortmund steht zum Beispiel kein einziges Gymnasium mehr auf der Liste der Schulen des gemeinsamen Lernens“, erklärte Kochanek.

Versprochen – gebrochen?

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP war vereinbart worden, die „Benachteiligung von Realschulen und Gymnasien“ zu beenden. Dazu gehört zumindest für die Gymnasien der mögliche Ausstieg aus dem „zieldifferenten“ Unterricht. Dann ginge es darum, an den Gymnasien alle Schüler zum gleichen Lernziel zu führen. Nur ein Teil der Kinder mit Behinderungen wäre dazu in der Lage.

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Die Landesregierung hatte angekündigt, die Förderschulen erhalten zu wollen. Außerdem wurden vier „Qualitätskriterien“ formuliert, die laut einem Erlass zur „Neuausrichtung der Inklusion“ jene Schulen, die das gemeinsame Lernen anbieten, ab dem Schuljahr 2019/20 schrittweise erfüllen sollen: Die Ausstattung soll Inklusion ermöglichen, der Einsatz von Sonderpädagogen muss möglich sein, die Lehrer sollten für die Inklusion weitergebildet werden, und diese Schulen brauchen ein „Inklusionskonzept“. Vier Monate vor Beginn des neuen Schuljahres zeichne sich aber ab, dass kein einziges dieser Versprechen erfüllt werde, so das Bündnis.

„Lehrer-Fortbildung Fehlanzeige“

Etwa die Hälfte der Schulen, die in Frage kommen, hätten noch kein Inklusionskonzept, heißt es. Die Ausstattung sei vielerorts so schlecht wie immer, und von systematischer Weiterbildung der Lehrer könne keine Rede sein. „Die Qualitätsverbesserungen stehen nur auf dem Papier“, behauptet Dorothea Schäfer von der GEW. „Das sind bisher bloß Appelle.“

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Selbst die in Aussicht gestellte Begrenzung der Schülerzahl nach der Formel „25 – 3 – 1,5“ sei inzwischen von einem Versprechen zu einer bloßen „Rechenformel“ runtergestuft worden. Gemeint ist damit „höchstens 25 Kinder in einer Klasse, davon drei mit Förderbedarf und eine zusätzliche halbe Lehrerstelle. Rechtsverbindlich sei das nicht, moniert das Bündnis. Daher dürften in den meisten Inklusions-Klassen nach wie vor 27 bis 30 Kinder sitzen.

Schüler-Sprecher beklagt „blamables Desinteresse“

„Und wo sind die multiprofessionellen Teams, von denen Ministerin Gebauer so gerne spricht? Ich sehe nicht, dass viele dieser Stellen ausgeschrieben sind“, wettert Bernd Kochanek. In diesen Teams unterstützen zum Beispiel Sozialpädagogen und Sozialarbeiter die Lehrer bei der Inklusion.

Nikolaj Grünwald, Vorstandsmitglied der Landesschülervertretung NRW, spricht von einem „blamablen Desinteresse“ der Landesregierung an der Inklusion.
Nikolaj Grünwald, Vorstandsmitglied der Landesschülervertretung NRW, spricht von einem „blamablen Desinteresse“ der Landesregierung an der Inklusion. © Federico Gambarini/dpa

Die Landesschülervertretung (LSV) unterstellt der Landesregierung gar ein „blamables Desinteresse“ an der Inklusion. LSV-Vertreter Nikolaj Grünwald findet, die Schulministerin verstoße bewusst gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen würden gebrochen. „Das ist strukturelle Gewalt gegen die Schwächsten“, sagte Grünwald.

Das Ministerium wies die Vorwürfe zurück: „Die Landesregierung steht zum Menschenrecht auf Inklusion. Die Umsetzung der schulischen Inklusion durch die rot-grüne Vorgängerregierung hat große Kritik von allen Beteiligten hervorgerufen. Die Landesregierung hat deshalb nach ihrem Amtsantritt entschieden, bei der Inklusion an Schulen in NRW umzusteuern.“ Ziel sei, die Qualität der schulischen Inklusion spürbar zu steigern. Alle Schulen des gemeinsamen Lernens müssen künftig Qualitätsstandards erfüllen.

Ministerium: „Die Kritik läuft ins Leere.“

Mit zusätzlichen Investitionen von insgesamt rund 1,9 Milliarden Euro bis 2025 setze die Landesregierung „ein deutliches Zeichen“. Bis zum Schuljahr 2024/2025 würden mindestens 6.000 Stellen mehr für das gemeinsame Lernen zur Verfügung gestellt, als unter der Vorgängerregierung vorgesehen. Damit alle Schüler die für sie jeweils bestmögliche Förderung wählen können, wolle die Landesregierung zudem ein landesweit flächendeckendes Angebot an Förderschulen erhalten.

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Die konzeptionelle Neuausrichtung der schulischen Inklusion in NRW greife, wie versprochen, ab dem Schuljahr 2019/20. Das laufende Schuljahr werde als „Jahr des Übergangs“ dafür genutzt, die Neuausrichtung der Inklusion im Dialog mit allen Beteiligten bestmöglich vorzubereiten. „Die Kritik läuft daher zum jetzigen Zeitpunkt ins Leere“, so das NRW-Schulministerium.

>>> Thema Inklusion prägte den Wahlkampf 2017

Das „Bündnis für inklusive Bildung in NRW“ war 2018 von 40 Mitgliedsorganisationen gegründet worden, darunter zahlreiche Sozial- und Behindertenverbände. Probleme bei der Inklusion waren im Landtagswahlkampf 2017 ein wichtiges Thema. Damals richtete sich die Kritik gegen die rot-grüne Landesregierung, die das Gemeinsame Lernen „überstürzt“ und ohne die nötige Ausstattung für die Schulen vorangetrieben habe. Schwarz-Gelb versprach, die Lage spürbar zu entschärfen.