Essen. . Die 14-jährige Nicole geht auf die Traugott-Weise-Förderschule in Essen. Sie hat viele Freunde, Hobbys und vor allem eins: Spaß an der Schule.
Nicole sitzt am langen Tisch im Klassenzimmer der F3. Sie blickt suchend nach links und rechts, begutachtet ihr Blatt und überlegt. Im Kunstunterricht geht es heute um das Thema Graffiti und alle Schüler dürfen ihre eigenen Kunstwerke aufs Papier bringen. Nicole arbeitet auf einer Vorlage – auf dem Blatt steht das Wort „Religion“. Auf einmal greift sie beherzt in ein Behältnis voll mit bunten Filzmalern und schnappt sich einen pinken Stift. „Meine Lieblingsfarbe“, sagt sie. Ihre beste Freundin Lea sitzt ihr gegenüber. Die beiden Mädchen grinsen sich zu. Dann fängt sie an, konzentriert die Buchstaben auszumalen. Ihr Ziel: Bloß nicht über den Rand malen – „aber die Stifte stinken.“
Nicole ist 14 Jahre alt und trägt das Downsyndrom. Sie besucht eine sogenannte Familienklasse an der Traugott-Weise-Schule (TWS) in Essen. Die Förderschule hat den Schwerpunkt Geistige Entwicklung und unterrichtet 164 Schüler mit unterschiedlichsten Einschränkungen. In der Familienklasse kommen Kinder verschiedenen Alters und Behinderung zusammen, um sozial zu lernen – also sich gegenseitig zu unterstützen.
Selbstständigkeit ist allgegenwärtig
„Hier ist genau der richtige Platz für Nicole“, sagt ihre Mutter Monika Ziegelowska. „Meine Tochter wird hier genau nach ihren Bedürfnissen, jeden Tag aufs Neue gefördert. So etwas könnte eine normale Regelschule nicht leisten.“ Auch Sandra Bouvelle, Schulleiterin der TWS, weiß, dass auch in der Inklusion unterschieden werden muss: „Besonders Kinder, die in Geistiger Entwicklung gefördert werden müssen, könnten so gut wie gar nicht inklusiv an einer Regelschule unterrichtet werden. Hier begegnen sich die Schüler auf Augenhöhe.“
Der jüngste Schüler in der F3 ist sieben, der Älteste 16 Jahre alt. Hier lernen Autisten neben Blinden oder lernschwachen Kindern. Die anderen Klassen setzen sich aus Gleichaltrigen zusammen, sie sind aufgeteilt in Vor-, Unter-, Mittel-, und Oberstufe. Danach geht es in die Berufspraxisstufe, wo die Jugendlichen sich auf ihren weiteren Weg vorbereiten können.
Einige Schüler in Nicoles Klasse malen gerade ihre Buchstaben auf, die beiden Lehrkräfte Rabea Matzner und Florian Ballin stehen ihren Schülern immer zur Seite, geben Hilfestellungen. Zwei Sonderpädagogen und eine Lehramtsanwärterin gehören zum Klassenlehrerteam, dazu kommen die Inklusionshelfer einzelner Schüler. Nicole hat Probleme mit Wörtern, sie kann nur Silben erkennen, diese aber nicht zu Wörtern zusammenfügen. Deshalb arbeitet sie im Kunstunterricht mit Schablonen, die sie dann ausmalen kann.
An der Förderschule sind Lehrer und Schüler per Du
Diese pädagogische Arbeitsweise erfordert für jedes Fach eine intensive Vorbereitung. Die Klasse beginnt immer zusammen den Unterricht, danach werden die Aufgaben individuell angepasst. Jeder Schüler hat ein anderes Leistungsniveau, das Lehrpersonal widmet sich intensiv der jeweiligen Betreuung. Die Hierarchien sind flach, Lehrer und Schüler sind per Du – das soll die Beziehung stärken und das Vermitteln von Inhalten einfacher machen.
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An der Förderschule ist die Schulpflicht von zehn auf elf Jahre verlängert. Kernziel der Arbeit an der Traugott-Weise-Schule ist die Selbstständigkeit der jungen Menschen. Deshalb ist Lebenspraktischer Unterricht (LPU) in jedem Fach allgegenwärtig. Zusammen üben die Schüler Verkehrssicherheit, Kochen, Grünpflege, handwerkliche Tätigkeiten und Alltägliches wie Kleidung an- und auszuziehen.
Der Mangel an Sonderpädagogen wird immer größer
„Diese Art, reale Lebensumstände zu lernen, kann von Regelschulen nur schwer getragen werden“, sagt die Schulleiterin. Die neue Unterstützung durch die schwarz-gelbe Landesregierung begrüßt Bouvelle, doch damit einher kommen andere Probleme. „Wir laufen, was die Personalstärke betrifft, schon länger am Limit. Es gibt zu wenig Sonderpädagogen und Studienplätze, um das in Rente ausscheidende Personal zu ersetzen.“
Der Erfolg gibt der Schulleiterin Recht; Nicoles Mutter ist begeistert von den Fortschritten ihrer Tochter. „Früher war sie furchtbar schüchtern und ängstlich, die Schule hat ihr viel Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit beigebracht. Hier hat sie Freunde gefunden und Interessen an Sport und Musik entwickelt.“ Die Familie wohnt nicht weit entfernt, Nicole könnte wohl auch alleine zur Schule gehen. Doch ihre Mutter fährt sie täglich mit dem Auto. „Meine Tochter ist jetzt in der Pubertät. Ich muss langsam lernen, loszulassen“, lächelt sie.
Nicole ist mittlerweile mit ihrem Graffiti fertig. In ihrem Schriftzug tummeln sich knallbuntes Blau, Pink und Grün, über den Rand gemalt hat sie fast gar nicht. Sofort schnappt sie sich das nächste Blatt und wühlt wieder in den Stiften, um ihr nächstes Kunstwerk zu schaffen.