Essen. . Mangel an Lehrern, Sonderpädagogen und Helfern lässt sich nicht rasch auflösen. Eine Inklusions-Studie fordert mehr Unterstützung für Schulen.
Der Zehnjährige sitzt mürrisch vor seinen Aufgaben. Er soll in Sätzen Satzglieder bestimmen, also Subjekt, Prädikat und Objekt. Eine Aufgabe, die Kinder der vierten Klasse beherrschen sollten. „Dieses Kind konnte aber keine Buchstaben“, erzählt Sonderschullehrerin Christiane Hardtung. „Was soll da eine solche Aufgabe? Da gehe ich die Wände hoch“, sagt Hardtung, die seit 25 Jahren engagiert ihren Beruf ausübt. „Der Junge ist frustriert, guckt aus dem Fenster und ist in den Pausen hoch aggressiv. Er durfte deshalb nicht mit auf die Klassenfahrt.“
Für die Lehrerin aus Gelsenkirchen eine verständliche Reaktion auf eine dauerhafte Überforderung. Wenn sie dann separat mit dem lernbehinderten Jungen üben will, sagt er nur: „Das kann ich sowieso nicht.“ Solche Situationen erlebe sie häufig. Es sei eine Notlösung, wenn Sonderschullehrer für ein Jahr an Regelschulen beordert werden. „Ich habe einen Kollegen, der flitzt durch sechs verschiedene Klassen.“ Alltag Inklusion. Christiane Hardtung sagt es so: „Alles Murks.“
Mangelverwaltung an Schulen
Auch die Landeselternschaft NRW kritisiert die Umsetzung der Inklusion. Sonderpädagogen hätten zu wenig Zeit für die Kinder, es fehle an Räumen, die Personalnot führe zu Unterrichtsausfall und Krankmeldungen, manche Kinder würden nur noch „verwahrt“. Unter dem Strich sei „keine qualitativ hochwertige Bildung für alle mehr möglich“, sagte Christina Herold, Vorsitzende der Elternschaft.
Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kennt die Klagen und hat jüngst ein Regelwerk vorgelegt, das eine Kehrtwende einleiten soll. So soll ein gemeinsamer Unterricht nur noch an „Schwerpunktschulen“ stattfinden. Im Haushalt 2018 wurden Mittel für 600 sozialpädagogische Fachkräfte an Grundschulen geschaffen, 2019 sollen weitere 600 folgen.
Hunderte Stellen für Sonderpädagogen unbesetzt
Zudem wurde die gesetzliche Mindestgröße an Förderschulen gesenkt, um weitere Schließungen abzuwenden. Von rund 140 000 Kindern mit Handicap werden in NRW etwa 80 000 an Förderschulen unterrichtet.
Allerdings ist fraglich, woher die zusätzlichen Sonderpädagogen kommen sollen. Gut 500 Stellen konnten aktuell nicht besetzt werden, rechnet Bildungsforscher Klaus Klemm vor. Er kritisiert: „Der Erlass über die Mindestgrößen führt nicht zu einer Qualitätsverbesserung an Förderschulen.“ Will man auch kleine Standorte erhalten, drohe dort ein akuter Lehrermangel. Klemm: „Wenn dann Fachkräfte von Regelschulen abgezogen werden, geht die Inklusion endgültig baden.“
Die Quote hat sich nur gering verbessert
Die Zahlen der Bertelsmann-Studie zum Stand der Inklusion in Deutschland zeigen, dass NRW bei der Inklusion, also dem gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, nur langsam vorankommt. Besuchten noch 2008/09 – dem Zeitpunkt, als die UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen in Kraft trat – noch 5,2 Prozent aller Schüler eine Förderschule, waren es nach den neuesten vorliegenden Zahlen 2016/17 nur noch 4,6 Prozent. Die „Exklusionsquote“ hat sich also um 0,6 Prozentpunkte verbessert.
„Wenn man bedenkt, wie heftig in NRW über das Thema gestritten wurde, ist das ein geringer Erfolg“, sagte der Essener Bildungsforscher und Studienautor Klaus Klemm.
„Die Inklusion ist vor allem durch die Aufnahme von Schülern mit Lernschwierigkeiten in die Regelschule vorangekommen. Allerdings werden vielerorts die Lehrkräfte noch zu wenig unterstützt“, mahnte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Die Klassenzimmer wurden in den vergangenen Jahren immer heterogener, zugleich wuchs das Unbehagen von Lehrern und Eltern. Ihre Sorgen würden von der Politik nicht ernst genug genommen, es fehlten Sonderpädagogen in den Kollegien und Fortbildungen für die Lehrer.
Die Exklusionsquote
Wie wichtig das ist, belegen aktuelle Studien, wonach Kinder mit dem Förderbedarf Lernen, Emotionale Entwicklung und Sprache an Regelschulen bessere Leistungen erbringen als an Förderschulen, so Klemm. Doch in der Praxis fehlt es an Betreuung und Fachpersonal.
Die Bertelsmann-Studie erhebt die Exklusionsquote. In vielen Berichten zum Thema ist indes vom Inklusionsanteil die Rede. Er beschreibt, wie viele Schüler von allen mit Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet werden. Diese Zahlen legen nahe, dass Deutschland gravierende Fortschritte bei der Inklusion gemacht habe. So stieg der Inklusionsanteil in Deutschland von 18,4 Prozent im Jahr 2008 auf knapp 40 Prozent.
Mehr Schüler mit Förderbedarf
Klemm hält diese Kennziffer aber für irreführend. Sie täusche einen Fortschritt bloß vor. Denn an einigen Regelschulen werde inzwischen deutlich mehr Schülern ein Förderbedarf attestiert als früher, auch in NRW. Das führe zu einer Überschätzung des Inklusionsanteils. Aus seiner Sicht ist daher ausschlaggebend, wie viele Schüler von der Gesamtheit aller Schüler noch Förderschulen besuchen und bei der „Inklusion draußen bleiben“. Das ist die Exklusionsquote.