Essen. . NRW will 60 Schulen in sozialen Brennpunkten unterstützen, um Schüler besser zu fördern. Doch einige Schulleiter boykottieren den Modellversuch.
Seit Jahren wird dem deutschen Schulsystem bescheinigt, dass es benachteiligte Kinder nur unzureichend fördert. Mit 60 „Talentschulen“ will die schwarz-gelbe Landesregierung diesem Befund nun entgegenwirken. Mit mehr Lehrern und mehr Geld sollen Schulen in einem „sozial schwierigen Umfeld“ unterstützt werden. Kritiker sehen in den Talentschulen einzelne Leuchttürme, die zwar weithin strahlen, doch zugleich den Großteil der Schulen im schulpolitischen Dunkelfeld belassen. Worum geht der Streit?
Der Schulversuch:
Ab dem Schuljahr 2019/20 soll an 45 allgemeinbildenden und 15 berufsbildenden Schulen erprobt werden, ob die Leistungen von Schülern durch besondere Unterrichtskonzepte, mehr Personal und Hilfen bei der Schulentwicklung gesteigert werden können. Dafür stellt das Land mehr als 400 zusätzliche Lehrerstellen bereit: 100 an berufsbildenden Schulen, 315 an allgemeinbildenden. Für diese bedeutet das einen Zuschlag von 20 Prozent auf den Grundstellenbedarf. Die Stellen sollen helfen, den Fachunterricht auszubauen, den Unterrichtsausfall zu reduzieren sowie mehr Angebote und Beratungen anzubieten.
Das sagt die Politik:
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Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) betont: „Mit den Talentschulen kommen wir dem Ziel näher, soziale Nachteile in der Bildung zu überwinden und mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen.“ Die Opposition hält den Modellversuch Talentschule für unzureichend. „Wir fragen uns: Was sollen denn dann die anderen Schulen sein?“, sagte Jochen Ott, Schul-Experte der SPD-Fraktion. „Jeder Schüler hat es verdient, dass diese individuellen Talente gefördert werden.“ Ähnlich argumentiert Sigrid Beer (Grüne): An 99 Prozent der Schulen gehe die Förderung vorbei. Mathias Richter, Staatssekretär im Schulministerium, hält dagegen: Am Ende würden alle Schulen von den Erkenntnissen profitieren.
Das halten die Verbände von dem Versuch:
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„Jede Schule ist eine Talentschule und verdient angemessene Rahmenbedingungen“, sagt Anne Deimel, stellvertretende Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). Ein Schulversuch sei nicht nötig, um festzustellen, dass bessere Ausstattung und Personal die Bildungsqualität heben. Ähnlich sieht es die Bildungsgewerkschaft GEW: Mit „dieser schulpolitischen Insellösung vermeidet die Landesregierung die notwendige sofortige Unterstützung aller Schulen“, sagte Landesvorsitzende Dorothea Schäfer.
Positiv reagiert der Verband Lehrer NRW. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass „eine Schulförderung mit der Gießkanne nicht funktioniert“, sagte die Vorsitzende Brigitte Balbach.
Die Wissenschaft sagt zu Talentschulen:
Der Bochumer Sozialwissenschaftler Prof. Jörg-Peter Schräpler verweist darauf, dass in NRW weit mehr Schulen mit einem schwierigen Umfeld kämpfen. Nach seinen Daten seien es mehr als 380, auf die diese Kriterien zutreffen. „Und die Grundschulen bleiben komplett außen vor“, so Schräpler. „Knapp 570 Grundschulen liegen in einem schwierigen sozialen Umfeld, sie profitieren gar nicht.“ Zudem führe die lange Laufzeit des Schulversuchs bis 2025/26 dazu, dass andere Schulen erst spät von den Erkenntnissen profitieren könnten.
Prof. Ewald Terhart, Erziehungswissenschaftler an der Uni Münster, ist Vorsitzender der Auswahljury. Er verteidigt das Konzept: „Wir wollen sehen, welche Maßnahmen wirksam sind. Die Ergebnisse werden dann auf andere Schulen übertragen.“ Mit Blick auf den Fachkräftemangel wäre es falsch, Talente nicht zu fördern. Darauf zu verzichten wäre „ungerecht, unpädagogisch und unökonomisch“.
Die Schulen:
Viele Schulen begrüßen die Chance, zusätzliche Mittel zu erhalten. Andere lehnen den Wettbewerb grundsätzlich ab. So boykottieren alle neun Essener Berufskollegs den Schulversuch des Landes. „Wir stehen alle vor den gleichen Herausforderungen. Mit dem Talentschulversuch wird aber eine Schule im Stadtteil herausgehoben – und eine andere 500 Meter weiter geht leer aus“, sagt Schulleiter Georg Greshake, Sprecher der Essener Berufskollegs. „Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.“
Die Gesamtschule Osterfeld in Oberhausen ist eine von 77 Schulen im Ruhrgebiet, die hingegen Talentschule werden will. Viele der rund 1500 Schüler stammten aus sozial schwierigen Verhältnissen, erhielten wenig Hilfe von ihren Familien, sagt Schulleiter Gregor Weibels-Balthaus. „Diese Kinder brauchen enorme Unterstützung. Das ist sehr personalintensiv.“ Sollte die Schule Erfolg haben, würde sie 18 zusätzliche Lehrerstellen erhalten. „Ich brauche diese Stellen.“