Essen. Deutschland gilt als Nachschub-Basis für radikale Islamisten. Deshalb geht der Generalbundesanwalt zunehmend massiv gegen Verdächtige vor. Die Zahl der Verhaftungen wächst. Aber die neuen Dschihadisten sind anders als die Attentäter von 9/11.
Das Attentat in Ottawa ist für die deutschen Sicherheitsbehörden ein weiterer Fingerzeig, dass der „Islamische Staat“ (IS) einen „grenzüberschreitenden Herrschaftsanspruch“ hat und den ganzen Globus als Kriegsschauplatz oder zumindest als Nachschub- und Rückzugsraum für seine Kampfführung nutzen möchte. Sie kennen eine Weltkarte der Terroristen, auf der Europa, Afrika und Asien von den schwarzen Fahnensymbolen des IS bedeckt sind. Darunter steht bedrohlich der englische Begriff „soon“. Zu Deutsch: bald.
Kassem el R. sitzt seit dem Wochenende in Untersuchungshaft. Er soll den IS-Ableger Ahrar al-Shalam unterstützt haben, nach dem Strafrechtsparagrafen 129 eine „ausländische terroristische Vereinigung“. Der 31-jährige Student der Elektrotechnik hat mit seiner Familie in einem Wohnheim am Jagdweg im Bonner Stadtteil Poppelsdorf lange friedlich gelebt. Ein GSG 9-Kommando stürmte seine Wohnung am Samstag um fünf Uhr früh und nahm ihn fest.
Wirtschaftliche Unterstützung
Möglicherweise ist el R. einer der Meister-Logistiker für den Krieg der Terrorbanden des „Islamischen Staates“, mit dem sie Syrien und den Irak überziehen. Er ist nicht für die Maschinenpistolen zuständig, sondern für die Wäsche der Dschihadisten – und das in großem Umfang. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, seit Dezember die Lieferung von 7500 Paar Stiefel, immerhin 6000 Militärparkas und 100 Militärhemden aus Deutschland über die Türkei organisiert zu haben. Fabrikneu und in seinem Auftrag gefertigt von einer Großschneiderei bei Ulm. Der stolze Wert: 130.000 Euro.
Andere Zugriffe erfolgten zur gleichen Zeit in sieben Bundesländern, in NRW auch in Aachen. Sie belegen: Seit dem Verbot des „IS“ am 12. September gehen die deutschen Sicherheitsbehörden massiver gegen mögliche IS-Terroristen oder ihre Sympathisanten vor. Im Takt weniger Tage beantragt die Bundesanwaltschaft Haftbefehle oder erhebt vor den Staatsschutzsenaten der Oberlandesgerichte (OLG) Anklage gegen Anhänger des IS, den Absplitterungen Ahrar al-Sham und Jabath al-Nusra oder dem somalischen Al Kaida-Ableger Al Shabaab.
NRW Schwerpunkt der Fahndung
Oft ist das OLG Düsseldorf zuständig. Nordrhein-Westfalen ist ein Schwerpunkt der Fahndung. Erst vor vier Wochen war ein Salafistenprediger in Bonn verhaftet worden. Der Vorwurf: Er habe Fahrzeuge an die Terroristen im Norden Syriens geliefert. Kamel Ben Yahia S. und Yusup G. aus Aachen haben nach den Ermittlungen für menschlichen Nachschub gesorgt und einen 17-Jährigen nach Syrien geschleust – einen jungen Kämpfer von alleine 130 aus NRW. 40 Islamisten aus Deutschland sind nach Informationen der Bundesregierung bereits in Syrien oder Irak gefallen.
Einer Mehrzahl der Verdächtigen wird die wirtschaftliche Unterstützung angekreidet und Betrug, über den sie Geld für die Kampfführung der Schwarzfahnen eingesammelt haben sollen. Sie sollen Banken über Internet-Konten um fünfstellige Summen erleichtert oder Geld und Kameras ins Kampfgebiet geschleust haben. Eine der in diesem Zusammenhang Verhafteten ist Karolina R., 25. Sie ist Deutschpolin.
Anders als Mohammed Atta
Den Fahndern des BKA und der Länder signalisiert das: Eine andere Terror-Generation wächst in der Bundesrepublik heran. Ihr gelten Abenteuerlust und Stärkegefühle mehr als religiöse Überzeugungen. Deutsche, Polen und Russen sind darunter. Sie ist also von der Herkunft her bunter. Sie radikalisiert sich anders und arbeitet anders als die Hamburger Gruppe um Mohammed Atta, die 2001 in New Yorks Twin Towers geflogen sind, als die Sauerland-Attentäter oder der einsame Schütze, der 2012 am Flughafen Frankfurt US-Soldaten tötete.
Sicherheitsbehörden haben Lebensläufe von 378 Personen ausgewertet, die bis Juli „mit islamistischer Motivation Richtung Syrien“ ausgereist sind. Sie haben „kein typisches Profil“ mehr gefunden. Es fällt auf:
Oft gescheiterte Existenzen
Nur jeder Dritte von ihnen hat einen Schulabschluss. Gerade 12 Prozent kommen aus einem Job, der aber meist gering bezahlt war.
Vor Beginn ihrer Radikalisierung waren 117 der ausgereisten Islamisten bereits polizeibekannt. Sie hatten kriminelle Karrieren mit Gewalt-, Drogen- oder Eigentumsdelikten hinter sich.
54 der 378 Islamisten sind Konvertiten, 240 weitere hatten mindestens einen muslimischen Elternteil.
Überraschend vor allem aber: Nur 23 Prozent haben sich über Kontakte zu einer extremistischen salafistischen Moschee radikalisiert. Zunehmend spielen der Freundeskreis oder Lock-Videos im Internet eine viel größere Rolle.