Washington/Istanbul. Die USA führen den Kampf gegen die Sunnitenmiliz IS nun auch in Syrien. Die IS-Stellungen werden mit Kampfjets, Bombern und Marschflugkörpern bekämpft. Auch arabische Verbündete kämpfen mit. Es gibt aber auch Kritik an den Angriffen. Russland spricht von einem Verstoß gegen das Völkerrecht.

Russland hat die Luftangriffe der USA gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien als Verstoß gegen das Völkerrecht kritisiert. Für einen solchen Militäreinsatz sei eine Zustimmung der syrischen Regierung oder ein Mandat des UN-Sicherheitsrates notwendig, teilte das Außenministerium in Moskau am Dienstag mit.

Der eigenmächtige Beschluss der USA und ihrer Verbündeten schüre Spannungen und destabilisiere die Region.

Arabische Staaten beteiligen sich am Angriff

Die USA haben in der Nacht zum Dienstag ihre Luftangriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vom Irak auf Syrien ausgeweitet. Das US-Militär und die Luftstreitkräfte von Partnerländern hätten die Extremisten mit Kampfjets, Bombern und Marschflugkörpern angegriffen, teilte Pentagonsprecher John Kirby am Montagabend (Ortszeit) mit. Nach Angaben syrischer Menschenrechtler kamen mehrere Dschihadisten bei den Angriffen ums Leben.

Bei den Verbündeten handelt es sich nach Informationen der "Washington Post" um Saudi-Arabien, Jordanien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain. Nach Angaben des US-Senders CNN sowie der "New York Times" soll auch das Golfemirat Katar beteiligt sein. Zuletzt hatte US-Außenminister John Kerry versucht, arabische Staaten für Angriffe gegen den IS an der Seite der USA zu gewinnen. Die Golfstaaten werden verdächtigt, islamistischen Terror unterstützt zu haben.

IS-Anführer im Visier

Zu den syrischen Angriffszielen gehörten laut CNN Gebäude, in denen sich IS-Anführer treffen, sowie Kommandozentren, Trainingslager und Waffenarsenale. Nach Informationen der "Washington Post" planten die USA Angriffe auf 20 IS-Ziele. Der Einsatz wäre somit der Tag mit den meisten Attacken gegen IS seit Beginn der Bombenflüge im Irak am 8. August.

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Syrische Menschenrechtler bestätigten am Dienstagmorgen mehrere "nichtsyrische" Luftschläge auf Einrichtungen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in der nordsyrischen Stadt Al-Rakka. Dort hatte der IS seine Kommandozentrale eingerichtet. Bewohner von Al-Rakka berichteten auf Twitter von schweren Explosionen und wiederholten Überflügen von Militärflugzeugen.

Hauptquartier der IS-Kämpfer wohl getroffen

Insgesamt hätten die USA und ihre Verbündeten rund 20 Luftangriffe geflogen, vor allem in Al-Rakka und Umgebung, berichtete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Dabei sei das mutmaßliche Hauptquartier der Dschihadisten getroffen worden. Mehrere Dschihadisten seien getötet worden; Opfer unter der Zivilbevölkerung waren zunächst nicht bekannt.

Syrien wurde über die US-Luftschläge nach eigenen Angaben vorab von Washington informiert. Der syrische Ständige Vertreter bei den Vereinten Nationen (UN) in New York sei am Montagabend (Ortszeit) von Washington in Kenntnis gesetzt worden, berichtete die syrische Nachrichtenagentur Sana am Dienstag unter Berufung auf das syrische Außenministerium.

Obama hatte Angriffe angekündigt

Der Angriff habe mit von See aus abgefeuerten Marschflugkörpern "Tomahawk" begonnen und sei mit Flugzeugen fortgesetzt worden, sagte ein Offizier der US-Streitkräfte dem Sender CNN. Im Einsatz waren laut ABC erstmals auch Kampfflugzeuge des Typs F-22 "Raptor". Den Befehl habe US-Präsident Barack Obama gegeben.

US-Präsident Obama hatte seinen Entschluss, die Anfang August begonnenen Luftangriffe im Irak auf das benachbarte Syrien auszuweiten, vor zwei Wochen in einer Rede an die Nation angekündigt.

Keine Zusammenarbeit mit Baschar al-Assad

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Syrien befindet sich seit mehr als drei Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg. Während das US-Militär die "gemäßigten" Rebellen nun auch ausbilden und mit Waffen ausrüsten soll, hat Obama eine Zusammenarbeit mit Präsident Baschar al-Assad ausgeschlossen.

Beobachter in Washington sind sich einig, dass die Bekämpfung des IS viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Die Sunnitenmiliz hat nach US-Schätzungen bis zu 31 000 Kämpfer. Andere Schätzungen gehen noch höher. Obama hatte die Amerikaner auf einen langen Einsatz eingestimmt. Eine Entsendung von Kampftruppen am Boden hat er aber ausgeschlossen.

Briten beteiligen sich vorerst nicht

Die Briten halten sich in der Frage von Luftangriffen auf die IS-Terrormiliz weiter bedeckt. "Die Diskussion läuft, es ist keine Entscheidung über unser Engagement gefallen", sagte eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums am Dienstag. Einen Einsatz am Boden hatte Premierminister David Cameron ausgeschlossen, Luftangriffe aber nicht.

Er hatte angekündigt, sich vor einem Militäreinsatz "wenn möglich" mit dem Parlament zu beraten. Der IS hält noch mindestens zwei britische Geiseln in seiner Gewalt. Bisher bombardieren die Nato-Länder USA und Frankreich die Terroristen.(dpa)

Israel schießt syrischen Kampfjet ab 

Die israelischen Streitkräfte haben ein syrisches Kampfflugzeug über den Golanhöhen abgeschossen. Der Kampfjet sei in den israelischen Luftraum eingedrungen, sagte Armeesprecher Arye Shalicar. Er sei daraufhin mit einer Patriot-Rakete abgeschossen worden.

Die Zeitung "Haaretz" identifizierte das syrische Flugzeug am Dienstag als eine MiG-21. Es sei der erste Abschuss eines syrischen Flugzeugs durch die israelische Armee seit 1982. Die Nachrichtenseite "ynet" schrieb, das Flugzeug sei nahe Kunaitra abgestürzt. "ynet" zufolge gingen die Sicherheitskräfte davon aus, dass der Jet islamistische syrische Regimegegner in Kunaitra angreifen wollte. Der Grenzübergang war vergangenen Monat von Milizen erobert worden.

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Die oppositionsnahe syrische Beobachterstelle für Menschenrechte in Großbritannien bestätigte den Abschuss. Der Pilot habe mit dem Fallschirm abspringen können, das Flugzeug sei vollständig zerstört. Auch Damaskus bestätigte dem syrischen Fernsehen zufolge den Abschuss. Ende August hatte Israel bereits eine aus Syrien kommende Drohne abgeschossen.

Ein Großteil der syrischen Golanhöhen ist von Israel besetzt. 1974 schlossen beide Länder einen Waffenstillstand, den die Vereinten Nationen beobachten.

Wie die IS-Schlächter eine ganze Region in Verruf bringen 

Der Arabische Frühling wirkt inzwischen wie ein Traum aus fernen Tagen. So gut wie alle Hoffnungen sind zerstoben, viele Protagonisten sitzen im Gefängnis. Stattdessen erfährt der Orient mit der blutigen Expansion der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eine Zäsur ganz anderer Art, die Züge einer historischen Kernschmelze trägt.

Für die chronisch marode arabische Staatlichkeit schlägt die Stunde der Wahrheit. Jeder denkbaren Koalition arabischer Potentaten fehlt die Kapazität, mit dem IS politisch und militärisch fertig zu werden. Zugleich haben die blutrünstigen „Gotteskrieger“ im Wechselspiel mit dem hilflosen Formel-Islam der geistlichen Führung der Region die tiefste Legitimationskrise ihrer Religion in der modernen Geschichte ausgelöst.

Millionen Muslime in Nahost tun so, als ginge sie der IS nichts an

Der Chefgelehrte von Kairos Al-Azhar-Universität, die sich gerne im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam sonnt, nannte IS kürzlich eine „zionistische Verschwörung“, die die arabische Welt in die Knie zwingen soll. Der Obermufti von Saudi-Arabien brauchte mehr als zwei Monate, bis er zu den islamistischen Barbaren überhaupt den Mund aufmachte. Auch die ideologische Verwandtschaft zwischen dem Islam, wie er von Saudi-Arabiens salafistischen Weltmissionaren ausgelegt wird, sowie dem Verhaltenskodex der IS-Schlächter ist nach wie vor ein großes Tabu.

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Kein Wunder, dass heute niemand mehr überzeugend erklären kann, wie das moralische Fundament des Islam eigentlich aussieht. Der sunnitische Islam ist zu einer Religion geworden, die ihre Kernbotschaft nicht mehr klar formulieren und vermitteln kann. Traditionelle Theologie und Ausbildung sind den modernen Herausforderungen nicht gewachsen. Das Bildungsniveau arabischer Prediger ist miserabel. Und Millionen von Muslimen in Nahost tun mit Verweis auf die Pluralität ihrer Religion so, als wenn sie das alles nichts anginge.

Rückschlag in Ägypten

Hand in Hand mit der tiefen religiösen Krise geht die großflächige Erosion arabischer Staatspraxis. Die eine Hälfte der 22 Nationen besteht mittlerweile aus gescheiterten Staaten, die andere Hälfte ist höchst autoritär. In ihrem Kreis hat sich bisher keine einzige funktionierende Demokratie herausgebildet.

Vor allem der Putsch im arabischen Schwergewicht Ägypten im Sommer 2013 war ein dramatischer Rückschlag für alle demokratischen Ambitionen. Ägypten ist zurückgekippt in den gewohnten Polizeistaat – noch hemmungsloser, zwanghafter und anarchischer als der jahrzehntelange Mubarak-Vorgänger. Gleichzeitig sind die 350 Millionen Araber – zieht man das frei Haus sprudelnde Rohöl einmal ab – im Weltvergleich wirtschaftlich wenig produktiv, wissenschaftlich abgehängt und ineffizient. Ohne ihr ölfinanziertes Migrantenheer wäre die Golfregion immer noch ein unwirtliches Entwicklungsgebiet.

Keiner kann den IS-Spuk beenden

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Die arabischen Mittelmeerstaaten dagegen werden zerfressen von Korruption, politischer Inkompetenz und ihren hemmungslos ausufernden Bürokratien. Nirgendwo aber ist ein tragfähiges Gewebe zivilgesellschaftlicher Kräfte gewachsen, was das Blatt wieder zum Besseren wenden könnte.

Und so haben weder die kraftlosen islamischen Chefprediger noch die arabischen Staatslenker die Kraft, den von ihnen mitfabrizierten IS-Spuk rasch und definitiv zu beenden. Die regionale Koalition der angeblich Willigen zeigt mit dem Finger Richtung Westen und seiner Kampf-Jets. Keine der arabischen Machteliten hat die Absicht, mehr zu tun, als bombastische Fensterreden zu halten. Dem IS könnte das erlauben, sich auf Jahre oder Jahrzehnte im Herzen der Region festzusetzen. Und die orientalische Kernschmelze wird sich immer weiter hineinfressen. (von Martin Gehlen)