Kiew. Im umkämpften ukrainischen Kriegsgebiet stehen wichtige Atomanlagen. Die Betonhülle der Rektoren ist vor panzerbrechenden Waffen nicht geschützt.

Wegen der eskalierenden Kämpfe in der Ukraine wächst das Risiko für die Atomanlagen in dem Land. Nur rund 200 Kilometer von der Kampfzone entfernt stehen die sechs Reaktorblöcke der Nuklearanlage Saporischschja. Sie gilt als größte Atomanlage Europas.

Derzeit sind in der Ukraine 15 Reaktoren an vier Standorten in Betrieb. Sie decken rund die Hälfte des Strombedarfs. Die Regierung in Kiew hat die Nato bereits um Hilfe bei der Sicherung der Anlagen gebeten. Diese entsandte im April erstmals Experten, die sich um den Schutz der Atomkraftwerke und der Energie-Infrastruktur kümmern sollen.

Gegen einen direkten Beschuss sind die Reaktoren kaum geschützt. Die Betonhülle ist nach Angaben von Experten nur etwa 1,20 Meter dick und übersteht nur den Absturz kleinerer Flugzeuge. Nach einer Greenpeace-Studie können panzerbrechende Waffen diese Schicht leicht durchschlagen und eine Kernschmelze verursachen.

Ausfall der Stromversorgung könnte zur Kernschmelze führen

Michael Sailer, Atomexperte vom Ökoinstitut in Darmstadt, weist darauf hin, dass nicht nur ein direkter Beschuss des Reaktors ein großes Sicherheitsrisiko darstellt. Auch die Zerstörung von Hochspannungsleitungen oder sensibler Anlagen im Umfeld der Atomanlage könnten fatale Folgen haben. Der Ausfall der Stromversorgung über mehrere Stunden könne zu einer Kernschmelze führen. „Dann haben wir eine Situation wie in Fukushima“, sagte Sailer. Da niemand wisse, ob sich die Kämpfe ausweiten, müssten die Reaktoren möglichst rasch heruntergefahren werden, fordert er.

Wegen der Unterstützung Moskaus für die Separatisten in der Ukraine wollen Regierungen der EU-Staaten nun neue Sanktionen gegen Russland verhängen. Bei einem Treffen der 28 EU-Staaten in Mailand bewerteten mehrere Außenminister das Vorgehen Russlands als „Invasion“. Die Bundesregierung sprach erstmals von einer „militärischen Intervention“ Russlands. Sanktionen werden schon beim heutigen EU-Gipfel ein Thema sein.

Die Nato forderte von Moskau ein Ende von Militäraktionen in der Ukraine. Russland bestritt solche Einsätze erneut. Die von den USA vorgelegten Satellitenbilder mit angeblichen russischen Truppenbewegungen seien als Beweise ungeeignet. Kremlchef Wladimir Putin verglich das Vorgehen der ukrainischen Regierungstruppen mit dem der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.

Kämpfe im Umfeld von Atomanlagen sind völlig neues Bedrohungs-Szenario 

Die Reaktor-Ruine von Tschernobyl in der Ukraine war wohl bis Fukushima das berühmteste Mahnmal für die Risiken der Atomenergie. Dennoch wurden nach der Nuklearkatastrophe im Jahr 1986 nur die Nachbarreaktoren Tschernobyl 1 bis 3 vom Netz genommen. Insgesamt versorgen 15 Reaktoren die Ukraine mit Strom. Sie werden derzeit von Soldaten bewacht, es gilt eine erhöhte Alarmbereitschaft. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Westen wächst angesichts der Kämpfe die Sorge um die Sicherheit der Kraftwerke, vor allem um die Reaktorblöcke im Südosten des Landes.

Kämpfe im Umfeld von Atomanlagen sind ein völlig neues Bedrohungs-Szenario für die nukleare Sicherheit. In einem Brief an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) warnte Kiew bereits vor Monaten vor bewaffneten Aktionen russischer Truppen auf dem Gebiet der Ukraine sowie vor möglichen Folgen für die Atomanlagen.

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Ausfall der Kühlung könnte in Katastrophe enden

„Kein Reaktor in einem Kriegsgebiet ist vor Beschuss geschützt und sicher“, sagt Tobias Münchmeyer, Atomexperte von Greenpeace. „Es gibt in der Region viele panzerbrechende Waffen, die eine Reaktorhülle durchschlagen können.“ Auch ein Angriff auf die Stromversorgung oder das Netz könne durch den Ausfall der Kühlung verheerende Folgen haben, wie das Beispiel Fukushima zeigte. Und er weist auf ein weiteres Risiko hin: Da alle Meiler russischer Bauart sind, sei auch die Abhängigkeit von russischen Experten und Ersatzteilen groß. „Man kann sich vorstellen, dass nötige Lieferungen jetzt ausbleiben.“

Die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) beobachtet die Entwicklung sehr genau und ist in engem Austausch mit den Behörden in der Ukraine. Es gebe aber zurzeit „keine Informationen, die Anlass zu konkreten Beunruhigungen geben“, teilt die GRS auf Anfrage mit. Atomexperte Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt sagt hingegen: „Mir bereitet die Entwicklung große Sorgen.“