Duisburg. . Wie können straffällige Jugendliche noch die „Kurve kriegen“? Das gleichnamige Vorzeigeprojekt zeigt in Duisburg, dass Hoffnung besteht, dass man junge Schläger wie Emre und Klaukids wie Sven noch erreichen kann.
Emre redet über Respekt. Ausgerechnet! Emre, der mit zwölf schon drei Anzeigen am Hals hatte wegen Körperverletzung. Dieser Emre, der anderen „sehr oft einfach eine verpasst“ hat, der regt sich nun auf darüber, wie seine Mitschüler mit Lehrern umgehen. Er mag nicht, wie sie sind. Er mag aber auch nicht, wie er selbst mal war: „Ein bisschen brutal.“
Als er schließlich einem Mädchen den Zeh brach, kam die Polizei. Angst hatte Emre da, und seine Mutter erst! Aber sie wollten ihn gar nicht holen, sie wollten ihm helfen. Der Zwölfjährige sollte die „Kurve kriegen“. So heißt das Projekt, mit dem das Land NRW verhindern will, dass Jugendliche auf die schiefe Bahn abgleiten, bevor sie strafmündig sind. In dem Polizisten und Pädagogen zusammenarbeiten im Bemühen, kriminelle Karrieren von Kindern aufzuhalten, ihre Lebenswege umzuleiten.
Wie den von Emre aus Duisburg, den der Sozialpädagoge Matthias Gottesbühren „sehr problematisch“ nennt, der ein Schulhof-Schläger war und massiv den Unterricht störte. Wie den von Sven aus Dortmund, der prügelte und klauen ging mit polizeibekannten „Freunden“. Wie den eines Neunjährigen, so klein, dass die Beamten es kaum glauben konnten. Den zweier Mädchen, die mit zehn schon als Diebinnen aufgefallen waren. Und, jetzt endlich, den eines Duisburgers, mehrfach angezeigt wegen Körperverletzung, bei dem die Polizei nur darauf gewartet hat, dass er acht wurde und alt genug für das Programm.
Jede dreißigtse Straftat wird von einem Kind begangen
15.210 Tatverdächtige unter 14 Jahren zählte die Kriminalitäts-Statistik für NRW 2013, sie begingen damit mehr als drei Prozent aller Straftaten. 382 Kinder dieser Altersgruppe fielen mehr als fünfmal pro Jahr auf, gelten damit als „Mehrfachtäter“. Was sie genau anstellen, wird für diese Altersgruppe nicht erfasst. Für unter 21-Jährige aber gilt: Die größten Tatbereiche sind Raub, Körperverletzung, Diebstahl und Sachbeschädigung.
Doch das Dunkelfeld, sagt Kriminalhauptkommissar Jörg Bialon in Duisburg, sei gerade bei Kindern groß: „Viele denken, unter 14 Jahren könne man gar nicht anzeigen.“ Zumal: Die kleinen Kriminellen, die meist hauen oder klauen, sind ja eher Kleinkriminelle.
Noch. Die Idee des Innenministeriums war 2011: „Frühe Hilfe statt späte Härte.“ Je jünger, desto besser, sagt auch Sozialpädagoge Gottesbühren: Nach einer Straftat, bei der es erwischt wird, sei ein Kind unsicher, ängstlich, „das ist einfach erreichbar“. Wer mit 14 den Jugendknast von innen kennt, ist unter Umständen stolz darauf – „den kriegen sie aus dem Milieu kaum noch heraus“. Und die Betreuung kostet: 36 000 Euro pro Jahr im Gefängnis, teure Intensivtäter-Programme nicht gerechnet.
Also steht die Polizei möglichst früh auf der Matte. Drei schwere Eigentumsdelikte muss ein Kind schon auf dem Kerbholz haben oder eine Gewalttat, plus ein „kriminalitätsgefährdendes Umfeld“. Falsche Freunde, überforderte Eltern, fehlende Bezugspersonen, sozial schwaches Wohnviertel . . . Die Polizei sucht aus, zwei Pädagogen bewerten, das Jugendamt entscheidet mit. Und die Eltern: „Kurve kriegen“ ist immer freiwillig. „Gott sei Dank“, ist ihre häufigste Reaktion, „es kümmert sich jemand.“
„Ein Jugendlicher entscheidet sich, Dinge zu tun.“
Das sagte auch Emres Mutter nach dem ersten Schreck, sie ließ ihr Kind kaum noch aus dem Haus vor Sorge. „Emre macht das und tut jenes“, erzählten ihr die Lehrer über Jahre, „über seine Leistungen sprachen sie nie.“ Bis Matthias Gottesbühren kam, mit seinem Baukasten aus der Jugendhilfe. Hilfe fürs Kind, Hilfe für die Eltern, Freizeitangebote und Nachhilfe sind darin. Gottesbühren stellte Emre vor die Wahl, wie er es immer tut: „Ein Jugendlicher entscheidet sich, Dinge zu tun, das Umfeld ist nie allein verantwortlich.“
Auch interessant
Emre entschied, den Integrationshelfer, der fortan mit ihm in der Klasse saß, „cool“ zu finden. „Er war mein Schatten.“ Er beschloss, Gottesbühren zu vertrauen, der betont: „Die Polizei sagt uns alles, wir sagen der Polizei nichts.“ Emre lernte, für die Schule, aber auch, seine Energie besser mal an der Wand auszulassen als an Mitschülern. Im Anti-Aggressionskurs machte seine ganze Klasse mit. Und seine Mutter lernte im Elterncoaching, loszulassen. Und so kam es, dass die ganze Familie traurig war, als das Projekt nach zwei Jahren endete.
60 straffällig gewordene Kinder waren oder sind in Duisburg im Programm, rund 300 dürften es in knapp drei Jahren in den acht Modellstädten und -kreisen gewesen sein. Derzeit wird ausgewertet, aber schon jetzt steht fest: Ab 2015 werden im Ruhrgebiet auch Essen, Gelsenkirchen, Bochum, außerdem Düsseldorf und der Kreis Mettmann dabei sein. Zurzeit schießt das NRW-Innenministerium gut acht Millionen Euro pro Jahr in das Projekt.
Emre geht heute bei Prügeleien allenfalls dazwischen
Dafür kriegt nicht jeder die Kurve; drei Jugendliche entglitten Duisburg dann doch ins Intensivtäterprogramm. „Wir sind keine Wundermaschine“, sagt Kommissar Bialon, „wir können nicht alle retten. Aber wenn wir fünf, sechs bewahren können, ist das ein Riesen-Erfolg!“ Oder, wie Pädagoge Gottesbühren sagt: „Wenn einer weniger anstellt als vorher.“ Noch besser: Sie haben Jungs wie Emre. Der mit 14 bei Prügeleien allenfalls dazwischengeht, um die anderen auseinander zu bringen. Von dem seine Mutter sagt: „Wie er jetzt ist, ganz anders als früher!“ Respekt!