An Rhein und Ruhr. . Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fördert ein erstaunliches Ergebnis zustande: Der Zusammenhalt der Deutschen hat in den letzten 25 Jahren zugenommen. Allerdings nicht gleichmäßig: Besonders gut ist der Zusammenhalt dort, wo die Menschen eher jung und eher wohlhabend sind.

Der Zusammenhalt im bevölkerungsreichsten Bundesland hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die Menschen in NRW sind hilfsbereiter, solidarischer und toleranter geworden. Beispielsweise sagen drei von vier Personen, dass sie Menschen außerhalb der Familie um Hilfe bitten könnten. Vor dem Jahr 2000 sagte dies nur jeder Zweite. Zwar ist die Bereitschaft, Geld zu spenden, in NRW leicht rückläufig, dafür jedoch hat das ehrenamtliche Engagement deutlich zugenommen.

Das geht aus Daten der Studie „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ hervor, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt wurde. Einer der Befunde: Die Gefühlswelt der Deutschen in Ost und West klafft weit auseinander – und der Spalt ist zum Teil größer geworden. Das liegt vor allem daran, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl dort wächst, wo es den Menschen gut geht. Armut und hohe Arbeitslosigkeit nagen offenbar am Gemeinsinn – im Osten hält man den Wohlstand deutlich häufiger für ungleich verteilt als im Westen.

So liegt Hamburg mit seinem hohen Sozialprodukt auf Platz 1 des Gefühls für Gemeinsinn. Sachsen-Anhalt ist das Schlusslicht. Nordrhein-Westfalen liegt im Mittelfeld. Bertelsmann-Vize Liz Mohn: „Die Bekämpfung der Armut ist daher für die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zentral“.

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Einer der erstaunlichen Befunde: Gerade in großen Städten ist das Zusammengehörigkeitsgefühl besonders groß, auf dem Land ist es eher geringer. Städte ermöglichen häufiger „die Freiheit in der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen“. Dafür leidet hier die Anerkennung sozialer Regeln, die Forscher unter anderem an der Verbrechensstatistik messen.

Was die Haltung gegenüber Ausländern angeht, zeigt sich eine gewisse Ambivalenz: Deutlich besser bewertet wird die Teilnahme von Ausländern am politischen Prozess – dafür wird allerdings ein Anpassen an den hiesigen Lebensstil erwartet. Insgesamt, so die Forscher, steigt mit zunehmendem Ausländeranteil das Zusammengehörigkeitsgefühl. Was auch die Interpretation zulässt, dass Migranten dort hingehen, wo sie auf Toleranz hoffen. Die Forscher betonen jedenfalls: „Einwanderung in den gegenwärtigen Größenordnungen untergräbt in keiner Weise den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Deutlich mehr Toleranz gegenüber Homosexuellen

Eindeutig toleranter geworden sind die Deutschen gegenüber Homoxuellen. Auf die Frage, ob nebenan ein Schwuler einziehen darf, ist die Zustimmung deutlich gestiegen. Die Forscher der Bremer Jacobs University stellen in ihrem „Radar gesellschaftlichen Zusammenhalts“ anerkennend fest: „Selbst in Bayern als dem in dem Punkt am wenigsten toleranten westdeutschen Bundesland herrscht relativ hohe Zustimmung zu der Aussage.“

Und in hiesigen Medien wird der Schlager-Grand-Prix-Sieg von Conchita Wurst als Sieg der westeuropäischen Toleranz über die Homophobie im Osten gefeiert. Ist die Geschlechterfrage damit beantwortet, so etwa nach dem alten Swinger-Klub-Motto „Alles kann, nichts muss“? Dr. Lisa Mense, Geschlechterforscherin und Leiterin der Gleichstellungsstelle der Universität Duisburg-Essen hat Zweifel.

Frau Dr. Mense – haben Sie den Schlager-Grand-Prix geguckt?

Nicht alles – das ist einfach nicht meine Musik. Aber einige Auftritte habe ich mir angesehen, vor dem Hintergrund, wie Geschlechterrollen präsentiert werden.

Da war Conchita Wurst doch bestimmt ein gutes Beispiel, um den Unterschied zwischen Sex und Gender zu erklären?

Nun, es gibt weit mehr Kategorisierungen für „Gender“, also für die Zuschreibung eines Geschlechts, als nur das Auftreten. Aber Conchita Wurst, Geschlecht männlich, Auftritt in übertriebener Weiblichkeit, war eindrucksvoll. Bis dahin ist es eigentlich klassische Travestie: Männer stellen in übertriebener Form Weiblichkeit zur Schau. Das Besondere bei ihr ist der Vollbart, der dieser Zuschreibung dann noch mal zuwiderläuft.

Ist ein solcher Triumph ein Beispiel für zunehmende Toleranz gegenüber jeder Form sexueller Orientierung?

Leider nicht. Im Bereich der Kunst wird weit mehr toleriert als im Alltag. Und gerade der Grand Prix ist schon seit Langem auch eine Bühne für Künstler, die Geschlechterrollen infrage stellen. Erinnern Sie sich beispielsweise an die 90er- Jahre, als Dana, eine Transsexuelle, für Israel den Wettbewerb gewann. Der Grand Prix hat ein entsprechendes Publikum.

Dr. Lisa Mense, Geschlechterforscherin
Dr. Lisa Mense, Geschlechterforscherin © privat

Wie zeigt sich das?

Wenn man sich die Wertungen von Fernsehzuschauern und den Jurys in den jeweiligen Ländern anschaut, zeigt sich, dass diese oft weit auseinander liegen. Conchita Wurst hat auch in den osteuropäischen Ländern, denen man eine größere Homophobie unterstellt, viele Zuschauerstimmen bekommen, wo die Jury deutlich zurückhaltender war.

Dennoch hat man hierzulande – und die Bertelsmann-Studie legt das nahe – mit Homosexualität kein Problem mehr.

Das sehe ich durchaus anders. Wir beobachten immer noch, dass vor allem homosexuelle Jugendliche eine erschreckend hohe Selbstmordrate haben, deutlich höher als Heterosexuelle, auch höher als lesbische Mädchen. Schwulsein ist da immer noch ein sehr großes Problem, das mit hohem Leidensdruck einhergeht. Wie es um die Toleranz bestellt ist, zeigt sich auf anderen Schauplätzen wie zum Beispiel dem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare.

Hilft da ein Bekenntnis wie das von Thomas Hitzlsperger?

Bekenntnis halte ich für einen problematischen Begriff. Es geht ja nicht um eine Konfession. Hitzlsperger war zum Zeitpunkt seines Coming-Outs kein aktiver Fußballer mehr. Das zeigt ja schon etwas von dem Druck. Gleichwohl ist sein Beispiel wichtig, weil es zeigt: Homosexuelle Lebensentwürfe können sehr unterschiedlich sein und müssen nicht dem Schwulenklischee entsprechen.

Jüngst hat Facebook in der englischen Fassung 58 Optionen für die Geschlechterzuschreibung ermöglicht. Können Sie verstehen, dass da einige den Kopf schütteln und sagen: Bin ich denn der einzige langweilige Heterosexuelle?

Ich fürchte, dass unter anderem an diesem Punkt die Gegenöffentlichkeit ansetzen wird, etwa nach dem Motto: In Zeichen immer größerer Unsicherheit wird jetzt an Eckpfeilern wie Familie und Geschlecht gerüttelt. Das zeigt sich unter anderem bei den vehementen Protesten in Frankreich und gegen den neuen Lehrplan in Baden-Württemberg. Da werden Stimmen laut, die sich früher so nicht artikuliert haben. Wir sind noch weit von dem Punkt entfernt, wo es egal ist, wer welche Geschlechterrolle und welche sexuelle Präferenz hat.