Gelsenkirchen. . Die SPD im Revier ist sauer, weil die Große Koalition den Kommunen erst später helfen will. Der Vizekanzler will beruhigen, bringt aber nur die Andeutung einer Hilfe mit zur Ruhrkonferenz nach Gelsenkirchen. Die CDU wirft derweil Ministerpräsidentin Kraft vor, ein „böses Doppelspiel“ mit den Städten zu treiben.
Er hat es sich nicht anmerken lassen, aber Sigmar Gabriel dürfte vor dem Abstecher zur Ruhr-SPD mulmig zumute gewesen sein. Denn der Parteichef hat böse Briefe von den eigenen Genossen bekommen. Aus Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Essen. Die Botschaft an den „lieben Sigmar“: Sorge dafür, dass die Große Koalition das Revier zügig bei den Sozialkosten entlastet. Und: Macht bei der Energiewende nicht unsere stromintensive Industrie platt. Stadt-Spitzen wie Ullrich Sierau (Dortmund) und Sören Link (Duisburg) zürnten Richtung Berlin. Außerdem 16 SPD-Fraktionschefs aus dem Revier. Das nennt man: Aufbegehren an der Basis.
Frank Baranowski, Gelsenkirchens Oberbürgermeister, kam bei der Ruhrkonferenz der SPD sehr schnell aufs Geld zu sprechen. Er fühlt sich verschaukelt, weil die im Koalitionsvertrag festgeschriebene Hilfe für die Kommunen erst in der nächsten Legislaturperiode voll fließen sollen. „Ein Koalitionsvertrag ist kein Testament für nachfolgende Generationen“, warf er Gabriel entgegen. Und: „Man gewinnt ein Fußballspiel durch Tore, nicht durch Beinahe-Treffer.“
Viele Sozialdemokraten im Ruhrgebiet sind verärgert, weil die Große Koalition armen Städten Milliardenhilfen erst später als erwartet überweisen will. Es geht um die Eingliederungshilfe für Behinderte in Höhe von jährlich fünf Milliarden Euro, die es vom Bund erst ab 2018 geben soll. In dieser Legislaturperiode soll kein „Bundesteilhabegesetz“ verabschiedet werden. Außerdem geht es um jährlich eine Milliarde Euro „Soforthilfe“, deren Auszahlung sich ebenfalls verzögert: auf 2015. Die SPD im Revier spricht von einem Bruch des Koalitionsvertrages.
Ein echtes Geschenk hat Gabriel nicht im Gepäck
Gabriel, der Vizekanzler, dementierte die Berliner Pläne, die die Revierstädte erzürnen, nicht. Er hatte auch kein Geschenk mitgebracht. Nur die Andeutung einer Hilfe: „Ich kann versprechen, dass es 2017 eine wesentlich höhere Entlastung geben wird als 2016. Heißt: Statt einer Milliarde Euro Soforthilfe vielleicht 2,5 Milliarden oder mehr. Das Bundesteilhabegesetz solle schon 2016 verabschiedet werden – aber tatsächlich erst 2018 voll wirken.
Die wahre Zerrreißprobe stehe der SPD aber erst noch bevor, redet Gabriel seinen Parteifreunden ins Gewissen. Die komme, wenn die Behindertenverbände mehr Leistungen bei der Eingliederungshilfe fordern. „Es wird schwer werden, einige dieser Ansprüche zurückzuweisen. Dennoch müsse die SPD den Mut haben, „diese nach oben offene Ausgabenskala zu verhindern.“ Sonst, so Gabriel, „werdet ihr keine Entlastung von fünf Milliarden Euro erleben, sondern eine Belastung von fünf Milliarden Euro.“
Gabriel weiß natürlich, wie er ein Ruhrgebietspublikum umgarnen kann. So bringt er geschickt den Solidarbeitrag ins Gespräch, über den bis 2019 neu entschieden wird. Die zehn Milliarden Euro aus dem „Soli“ könnten Deutschland und das Revier „bitter brauchen“. Das hört man gern hier. Im Übrigen habe die Koalition in Berlin, der SPD sei Dank, „in 100 Tagen mehr erreicht als die vorherige Große Koalition in vier Jahren: Mindestlohn, Doppelpass, Frauenquote und vieles mehr.
„Insgesamt überzeugend“ nannte Dortmunds OB Ullrich Sierau Gabriels Auftritt. Der Parteichef erntet artigen Applaus. Aber das Verhältnis zu ihm war hier in der Ruhr-SPD schon mal herzlicher.
CDU sagt: Kraft hintergeht die Städte
Zeitgleich schießt sich die CDU im Streit um die milliardenschwere Entlastung der NRW-Kommunen auf Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ein. Kraft treibe „ein böses Doppelspiel“ mit den Städten an Rhein und Ruhr, kritisierte die Kommunalpolitische Vereinigung der Union. Kraft sei „im Detail“ darüber informiert gewesen, dass der Bund die Kommunen zunächst nur ab 2015 mit jährlich einer Milliarde Euro entlasten werde und die große Strukturreform mit einer Übernahme der Eingliederungshilfe erst in der nächsten Legislatur komme, sagte auch der CDU-Bundestagsabgeordnete und Ruhr-Bezirkschef Oliver Wittke.
Kraft habe das Entlastungsvolumen bis 2017 von Anfang an gekannt und in der letzten Nacht der Koalitionsverhandlungen sogar noch dafür gesorgt, dass eine Milliarde Euro zu Lasten der Kommunen in den Etat von Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) umgeleitet worden sei. „Das ist verbürgt“, bekräftigte Wittke.
Gabriel stellt sich hinter die Industrie
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat vor der Ruhr-SPD industriefreundliche Töne angeschlagen. Es sei nicht gut, Betriebe immer mehr für Energie zahlen zu lassen. Es drohe die Abwanderung ins Ausland. „In den USA sind die Strompreise nur halb so hoch“, so Gabriel. Es sei nötig, die Debatte über Strompreis-Privilegien für energieintensive Industrien mit der über Arbeitsplätze zu verbinden. „Wir müssen in Deutschland um industrielle Wertschätzung kämpfen. Da sollte sich die SPD beinhart positionieren.“ Gabriel kritisierte die seiner Ansicht nach ausufernde Subventionierung erneuerbarer Energien. „Es ist nicht Ziel der Energiewende, einen Teil der Deutschen über Zuschüsse zu Millionären zu machen, und die anderen müssen dafür zahlen.“ Die SPD dürfe die Grünen „nicht links überholen“.