Essen. Der russische Präsident hält die Annexion der Krim für vergleichbar mit der deutschen Einheit. Tatsächlich ist der Vergleich aus vielerlei Gründen gewollt falsch – auch wenn sich am Ende vielleicht manche Probleme ähneln. Eine Analyse
Wladimir Putin liebt historische Vergleiche. 2011 nannte er den Militäreinsatz des Westens zur Unterstützung der libyschen Rebellen „einen mittelalterlichen Kreuzzug“. Am Dienstag griff der russische Präsident wieder ins Geschichtsbuch-Regal: Die Eingliederung der Krim nach Russland – das sei wie die deutsche Wiedervereinigung.
Russland, sagte Putin in seiner Ansprache, habe 1990 ausdrücklich dem Willen des deutschen Volkes zugestimmt. Nun solle der Westen „die Wiederherstellung der Einheit“ in Russland akzeptieren. „Ich bin mir sicher, dass die Deutschen uns unterstützen werden bei der Wiedervereinigung.“
Ist der Vergleich der Krim mit Deutschland bevölkerungspolitisch erlaubt?
Kaum. Das Gebiet der ostdeutschen Länder, die von 1949 bis 1990 die DDR waren, ist immer deutsch gewesen. Die Krim dagegen wurde, nachdem sie über viele Jahrhunderte von verschiedensten Ethnien bewohnt wurde und lange unter osmanischer Herrschaft stand, erst 1783 von Zarin Katharina „von nun an und für alle Zeiten“ für russisch erklärt.
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In der Folge verdrängten die Zaren die Krimtataren, die 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Heute sind von den 2,3 Millionen Einwohnern 60 Prozent Russen, ein Viertel Ukrainer, zwölf Prozent Tataren.
Wie entwickelte sich die Geschichte nach 1945?
Auch hier verbieten sich alle Vergleiche. Auf deutschem Boden entstanden 1949, als Folge des Hitler-Krieges, zwei Staaten. Die Krim, die damals zur Russischen Sowjetrepublik gehörte, wurde durch einen Akt Nikita Chruschtschows 1954 der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Es war eine Art innerstaatliche Neuordnung.
1991 löste sich die Sowjetunion auf. Per Volksabstimmung erklärte sich die Ukraine unabhängig. Bei der Abstimmung votierten 54 Prozent der Krim-Bevölkerung für die Zugehörigkeit zur Ukraine. Die Krim erhielt einen Autonomiestatus innerhalb des neuen Staates.
Erfolgten die beiden „Wiedervereinigungen“ nach einem geregelten völkerrechtlichen Prinzip?
Solche Regeln gibt es nicht. Entsprechend unvergleichbar sind die Vorgänge: Die Einheit der beiden deutschen Staaten wurde in einem komplizierten, „auf Sicht gefahrenen“ und etwa acht Monate langen Prozess vollzogen. Die am 18. März 1990 frei gewählte DDR-Volkskammer stimmte für den Beitritt zur Bundesrepublik. Im Juli wurde auf DDR-Gebiet die D-Mark eingeführt.
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In Verhandlungen der beiden deutschen Regierungen mit den vier Siegermächten des 2. Weltkriegs und in einer Sitzung mit Polen entstand durch die Zustimmung auch der Sowjetunion der „2 plus 4“-Vertrag, der die Einheit ermöglichte. Moskau sagte Ja zur Nato-Mitgliedschaft des ganzen Deutschland. Es gab keine Volksabstimmung über die Vereinigung, aber eine gemeinsame Bundestagswahl folgte bald.
Hektischer und ganz ohne Vertrag oder Verhandlung ist die Abspaltung der Krim erfolgt. Die ukrainische Regierung wurde nicht gefragt. Kein anderer Staat stimmte zu. Der Vorgang ist unmittelbare Folge des politischen Umsturzes in der Ukraine, wo die Ablösung der pro-russischen Regierung starke separatistische Gefühle in der mehrheitlich russischstämmigen Bevölkerung der Halbinsel weckte, die von Moskau befördert wurden. Mit der Volksabstimmung am Sonntag vollzog die Krim-Bevölkerung im Alleingang den Beitritt.
Spielten wirtschaftliche Erwartungen eine Rolle?
Hier trifft Putins Vergleich – ausnahmsweise. Die Infrastruktur der Krim ist ruiniert. Moskau muss 25 Milliarden Rubel in Straßen und Stromtrassen investieren. Die Renten müssen von heute 6000 auf das russische Niveau von 10.000 Rubel steigen. Auch andere Sozialstandards sind in Russland höher.
Alles wie 1990 in Deutschland.