Rom. . Ein Jahr nach seiner Wahl ist die Popularität des Papstes ungebrochen. Doch inzwischen geht vielen Geistlichen seine Kritik an der Kirche zu weit. Der Pontifex selbst wehrt sich gegen den Personenkult. „Das gefällt mir nicht. Diese ideologischen Deutungen, diese Papst-Franziskus-Mythologie“, klagt der 77-Jährige.

„Brüder und Schwestern, guten Morgen!” Die Stimme ist belegt wie immer, schwach im Ton, aber dank der riesigen Lautsprecher füllt sie das ganze Oval des Petersplatzes. An den kolossalen Palazzi draußen bricht sich das „buon giorno!“ und kehrt als vielfaches Echo zurück. Es ist März, eine durchaus noch garstige Jahreszeit, in der sich frühere Päpste in eine vatikanische Halle zurückgezogen haben für ihre wöchentliche Generalaudienz. Aber dort passen höchstens 12 000 Besucher hinein. Kein Format für Papst Franziskus. Zu ihm drängen jeden Mittwoch dreißig-, vierzigtausend Leute; jeden Sonntag kommen zum Mittagsgebet noch einmal so viele, und die Touristensaison hat in Rom noch gar nicht richtig angefangen.

„Brüder und Schwestern, guten Abend.“ Mit diesem von keiner kirchlichen Liturgie vorgesehenen Gruß hat sich der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio vor einem Jahr, am 13. März 2013, als neuer Papst vorgestellt. Und während heute schon nach einem Satz derart gemeinmenschlicher Höflichkeit der Applaus über den Platz tost, wussten die 150 000 Gläubigen an jenem verregneten Abend zunächst nicht, was sie mit diesem Menschen anfangen sollten.

11,5 Millionen Fans auf Twitter

Da stand er weit oben auf dem Balkon des Petersdoms, irgendwie weiß, aber seltsam unfeierlich gekleidet, linkisch in Haltung und Worten; das Brustkreuz hing schief. Erst als Franziskus sich so weit nach vorn beugte, dass es aussah, als würde er über die Brüstung stürzen; als er die Gläubigen um den „Gefallen“ ersuchte, zuerst ihn zu segnen, in dieser unfassbaren Gebetsstille, begann es auf dem Petersplatz zu knistern. In diesem Moment war Franziskus beim Volk angekommen und alles Volk, weltweit, bei ihm.

Heute beginnt sich Franziskus’ Image zu differenzieren. Da sind die Massen auf dem Platz, da sind die 11,5 Millionen Twitterer, die begeistert auf Franziskus abonniert sind. Da sind die Schlagzeilen, wenn der Papst irgendwelche in Not geratenen Leute anruft, von deren Schicksal er aus der Zeitung erfahren hat. Und da ist der Vatikanprälat, der am Rande der Generalaudienz spitz bemerkt: „Bei Benedikt sind die Leute theologisch gut genährt nach Hause gegangen; der hier gibt aber doch sehr den Dorfpfarrer.“

Ein Graffitti-Künstler hat den „Superman Franziskus“ in stürmischem Flug durch die Welt an eine römische Hauswand gesprüht. Selbst Bischöfe haben die Bildung von Franziskus-Legenden gefördert. Im Schutze der Nacht, hieß es da zum Beispiel, streife Franziskus inkognito um den Vatikan, um Essen an die dort zahlreich schlafenden Penner zu verteilen. Das passte ja auch so gut in das Bild eines Papstes, der „eine arme Kirche für die Armen” will.

Jetzt, nach zwölf Monaten, ist der Hauptperson dieses Spiel zu dumm geworden. „Das gefällt mir nicht. Diese ideologischen Deutungen, diese Papst-Franziskus-Mythologie“, klagte der 77-Jährige. Und so barsch, wie man ihn noch nie gehört hat, weist er „jede Idealisierung, jede Darstellung als Supermann oder als Star“ zurück. „Der Papst ist ein Mensch, der lacht, weint, ruhig schläft und Freunde hat wie alle anderen. Eine normale Person.“

Das Oberhaupt dieser Kirche, dieser 1,2 Milliarden Katholiken in der ganzen Welt, eine normale Person?

Wohin führt das alles? Die starken Gesten und die klaren Worte?

Die ersten Worte – zum Beispiel jene, wo Papst Franziskus sagt: „Wer bin ich, dass ich über einen Homosexuellen urteile?“ Sätze wie diese haben Schlagzeilen von einer „Änderung der katholischen Morallehre“ hervorgerufen und den Papst zu einer „allzu großen Projektionsfläche für lange gehegte Wünsche nach liberalem Wandel und weltlicher Logik“ gemacht.

Die schiere Dynamik, die Franziskus vom ersten Amtstag an entfesselt hat, ist bei allen in Rom, die man nach den ersten zwölf Monaten fragt, das beherrschende Thema. Bischöfe, die von außen in diese neue Welt kommen, rühmen die „unerhörte Offenheit zum angstfreien Reden auch über Themen, die vorher tabu waren“.

Es häufen sich aber auch die bitteren Briefe von Priestern, die sich gekränkt fühlen, wenn Franziskus in Bausch und Bogen die „Weltlichkeit des Klerus“ verdammt, dessen „fehlende Barmherzigkeit“ anklagt oder gar vom „Beichtstuhl als Folterkammer“ spricht.

Im Augenblick, sagt er, komme ihm die Kirche eben vor wie „ein Feldlazarett nach der Schlacht“: „Man muss einen schwer Verwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen.“