Essen. Das NRW-Sozialgericht hat die Urteile zum Anspruch von EU-Bürgern auf Hartz IV verteidigt. Wenn man die Freizügigkeit in der EU bejahe, sei es schwierig, Familien ohne Hab und Gut die Sozialleistungen zu versagen. Nach den Urteilen war eine Flut von Beleidigungen und Bedrohungen eingegangen.

Dass die Richter sich nach Rumänien scheren sollten – Wortmeldungen wie diese waren noch eher vornehm, in anderen wurde den Juristen rohe körperliche Gewalt versprochen. Mails, Briefe, Blog-Einträge, Anrufe bei der Pforte und der Geschäftsstelle: Eine Flut von teils sehr persönlichen Beleidigungen und Bedrohungen hat sich über Richter des Landessozialgerichts (LSG) ergossen, nachdem sie zwei bundesweit beachtete Entscheidungen zum Hartz-IV-Anspruch von EU-Neubürgern aus Rumänien und Bulgarien gefällt hatten. „Ich bin 28 Jahre Richter, das war für mich eine gänzlich neue Erfahrung“, meint Martin Löns, einer der beiden Senatsvorsitzenden.

Auch interessant

Die Entscheidungen waren im Oktober und November gefallen; zwei rumänischen Familien hatten die Richter zumindest vorerst Leistungen zugesprochen. Über die Beleidigungen berichteten die Juristen erst gestern beim Jahresrückblick des in Essen ansässigen Gerichts. „Die Welle macht deutlich, welche Ressentiments in Teilen der Bürgerschaft kursieren“, sagte Martin Kühl, der Vorsitzende des anderen Senats. Er wies auf ein verbreitetes falsches Bild von Justiz hin und stellte klar: Richter sprechen Recht, schließen keine Verträge zwischen Staaten und machen auch keine Gesetze – „das tun andere“.

Jobcenter lehnen Anträge weiter ab

Im Falle der beiden rumänischen Familien geht es nicht nur um deutsches Recht. Die Richter haben massive Zweifel, ob es rechtens ist, arbeitssuchende EU-Neubürger von Hartz IV auszuschließen – so wie es das deutsche Sozialgesetzbuch II tut. Das, so Kühl, vertrage sich nicht mit der durch Verträge garantierten Freizügigkeit innerhalb der EU: „Sie sieht zwingend einen Zugang zum Sozialsystem vor.“ Ein anderer Aspekt: Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass Menschen in Deutschland ein Recht auf ein abgesichertes Existenzminimum haben. Das muss nach Ansicht der Essener Richter auch für Bulgaren und Rumänen gelten, da sie im Land geduldet sind. In den entschiedenen Fällen sei die Not groß gewesen: „Eine der Familien hat altes Brot aus dem Abfall einer Bäckerei gefischt, um sich überhaupt ernähren zu können“, berichtet LSG-Richter Kühl.

Auch interessant

Und, wie ist nun der Stand? Steht hier lebenden Rumänen und Bulgaren Hartz IV zu, auch wenn sie noch nicht in Deutschland in die Sozialkassen eingezahlt haben? Die Lage ist unklar. Beide Entscheidungen des Landessozialgerichts sind bislang nicht rechtskräftig; eine ist auch bereits auf dem Weg in die nächste Instanz. Weil das zuständige Jobcenter Revision eingelegt hat, muss das Bundessozialgericht in Kassel entscheiden. Für die Arbeitsagentur NRW steht einstweilen fest: „Wir sehen die Entscheidungen der Essener Richter als Einzelfälle“, erklärte Sprecher Werner Marquis auf NRZ-Nachfrage. Anträge von Bulgaren und Rumänen würden konsequent abgelehnt, sofern die Betreffenden noch nicht in Deutschland gearbeitet haben. Bis auf wenige Widersprüche würden die Ablehnungen akzeptiert, eine Klagewelle sieht Marquis nicht.

Gleichwohl: LSG-Richter Martin Löns hat in seinem Senat schon bald die nächsten Entscheidungen anstehen. Endgültig klären werde sich die Rechtslage erst, wenn der Europäische Gerichtshof über vergleichbare Fälle entscheidet, die Gerichte aus Kassel und Leipzig nach Luxemburg gegeben haben. Das steht aber womöglich erst im nächsten Jahr an.