"Waffenstillstand" in der Ukraine - Steinmeier vermittelt
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Kiew. . Im Machtkampf mit der Opposition hat der ukrainische Präsident Janukowitsch einen “Waffenstillstand“ verkündet. Die Verhandlungen mit der Opposition würden am Donnerstag fortgeführt, hieß es. Auch der deutsche Außenminister Steinmeier kommt nach Kiew. Bei Zusammenstößen waren dort mindestens 28 Menschen getötet worden.
Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch hat mit der Opposition eine Waffenruhe vereinbart. Nun sollten Verhandlungen aufgenommen werden, um weiteres Blutvergießen zu verhindern, teilte das Präsidialamt an Mittwochabend in Kiew mit. Die Lage im Land solle dadurch wieder stabilisiert werden. Oppositionsführer Arseni Jazenjuk bestätigte die vereinbarte Waffenruhe. Eine Räumung des von der Opposition belagerten Unabhängigkeitsplatzes in Kiew durch die Polizei habe verhindert werden können. "Das wichtigste ist der Schutz von Menschenleben", fügte er hinzu. Bei den jüngsten Straßenschlachten in Kiew waren nach neuen offiziellen Angaben 28 Menschen getötet worden.
Unklar war aber zunächst, ob sich radikale Gruppen an die Vereinbarung halten würden. Die Opposition um Klitschko und Jazenjuk hat nach Ansicht von Beobachtern keine volle Kontrolle über diese Kräfte. Auf dem Maidan harrten auch in der Nacht Tausende Demonstranten aus. Ein Ring aus brennenden Barrikaden sollte den Platz gegen mögliche Räumungsversuche sichern. Die Flammen loderten nach Fernsehbildern auch in der Nacht weiter.
USA machen jetzt Ernst mit Sanktionen
Als Reaktion auf die Gewalt in Kiew verhängten die USA bereits erste Sanktionen gegen hochrangige Regierungsmitglieder der Ukraine. Die Strafmaßnahmen richteten sich gegen etwa 20 Personen, die für das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten verantwortlich gemacht würden, teilte das Außenministerium in Washington mit. Bei den Sanktionen handle es sich zunächst um Einreiseverbote. Die USA würden in Abstimmung mit der Europäischen Union aber weitere Schritte prüfen. Es blieb zunächst offen, welche Politiker in der Ukraine von den Strafmaßnahmen betroffen sind.
Die Außenminister der Europäischen Union wollen am Donnerstag ebenfalls über Sanktionen beraten. Zuvor versuchen der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seine Amtskollegen aus Frankreich und Polen, Laurent Fabius und Radoslaw Sikorski, in KIew zu vermitteln.
Steinmeier will am Donnerstag in Kiew vermitteln
"Wir wollen in Kiew mit Präsident Janukowitsch und den Vertretern der Opposition sprechen, um darauf zu drängen, jetzt beiderseits eine Atempause einzulegen und die Gewalt herunterzufahren", sagte Steinmeier am Donnerstagmorgen vor seinem Abflug nach Kiew. Die Bundesregierung wolle dabei helfen, wieder einen Weg in Verhandlungen über eine politische Konfliktlösung zu finden.
"Ob es uns gelingen kann, Schlimmeres zu verhindern, können wir nicht wissen", fügte der SPD-Politiker hinzu. Aber der Versuch sei für ihn Teil einer europäischen Verantwortung. Die Demonstranten in Kiew kämpfen gegen die pro-russische Politik Janukowitschs und fordern eine stärkere Anbindung an die EU.
Zehntausende Oppositionelle verschanzen sich auf dem Maidan
Am Mittwoch war das Blutvergießen in Kiew weitergegangen, nachdem ein Generalangriff der Polizeikräfte auf den Platz der Unabhängigkeit (Maidan) gescheitert war, wo sich Zehntausende Oppositionelle verschanzt haben. Den ganzen Tag über bedrängte die Einsatzpolizei den Maidan, es flogen Pflastersteine und Molotowcocktails, die Scharfschützen versuchten nach Aussagen von Rotkreuz-Sanitätern, Straßenkämpfern gezielt mit Gummikugeln die Augen auszuschießen. Sie feuerten auch mit scharfer Munition. Die Aufständischen hielten dagegen: „Mit Gottes Hilfe, mit Pflastersteinen und Molotowcocktails werden wir siegen“, feuerte ein Redner die Maidan-Verteidiger an.
Im westukrainischen Lemberg hat ein Volksrat der Aufständischen die Macht übernommen, auch in anderen Regionen stürmten Menschenmengen die Regionalverwaltungen. Inzwischen droht der gesamten Ukraine das Chaos. Erst flogen Argumente, dann Schimpfwörter, Steine und Brennsätze, jetzt drohen tödliche Bleikugeln endgültig die Lufthoheit zu übernehmen.
„Das Land ist dabei, in einen Partisanenkrieg zu rutschen“
Augenzeugen streiten, wer die ersten Steine und Molotowcocktails geworfen hat. Aber die Aggressionen, die sich dann auf beiden Seiten entluden, lassen an jeder friedlichen Lösung zweifeln. „Das Land ist dabei, in einen Partisanenkrieg zu rutschen,“ sagt der Publizist Ayder Muschdabajew. „Die Staatsmacht hat die Opposition monatelang an die Wand gedrückt und sie so radikalisiert.“ Er befürchtet, dass Oppositionsaktivisten in den Untergrund gehen und Überfälle auf Beamte starten.
Schon haben radikale Kämpfer des „Rechten Sektors“ einen Kontrollposten der Verkehrspolizei bei Kiew überfallen, um den Weg für Verstärkung zu öffnen. Verteidigungsminister Pawel Lebedew entsandte Fallschirmjäger aus Donezk nach Kiew. Die Beobachter streiten, was passiert, wenn die Armee in die Kämpfe eingreift. Ein Großteil ihrer schweren Waffen soll in einem Arsenal nahe Lemberg liegen, das von den Aufständischen kontrolliert wird.
Janukowitsch schlachtet Blutvergießen für eigene Propaganda aus
Präsident Viktor Janukowitsch und sein Gefolge bemühten sich nach Kräften, das Blutvergießen propagandistisch auszuschlachten: „Sie haben die Grenze überschritten, als sie die Menschen zu den Waffen riefen“, schimpfte Janukowitsch über die Oppositionsführer. „Eine schreiende Gesetzesverletzung. Und Gesetzesbrecher gehören vor Gericht…“
Janukowitsch schwieg allerdings dazu, welche Gesetze es seiner Staatsmacht gestatten, seit dem Beginn der Proteste Schläger in Zivil auf die Demonstranten zu hetzen. Und die Pressestelle des Innenministeriums versichert, man setze keine scharfen Waffen ein, die Extremisten auf dem Maidan jagten sich gegenseitig Kugeln in die Köpfe.
Stimmen der Vernunft sind noch vernehmbar
Janukowitsch und sein Regime haben Moskaus Rückendeckung. Das russische Außenministerium erklärte, in der Ukraine sei eine „braune Revolution“ im Gang und ärgerte sich offiziell über die ausbleibende „eindeutige Reaktion der europäischen Politiker“, die nicht zugeben wollten, dass die Opposition alle Verantwortung trage.
Noch machen sich in Kiew allerdings auch Stimmen der Vernunft bemerkbar. Eine Gruppe von 19 unabhängigen Parlamentariern und Abgeordneten der regierenden „Partei der Regionen“ rief zu einer Sondersitzung des Parlaments auf, um das Blutvergießen zu beenden. „Kommt in den Saal, setzt euch zusammen und stimmt ab!“ forderte die Abgeordnete Inna Bogoloslowska, die die Rückkehr zur Verfassung von 2004 und eine überparteiliche „Regierung des Vertrauens“ vorschlägt. Reaktionen blieben zunächst aus. Janukowitschs Geheimdienst SPU aber startete offiziell eine landesweite „Antiterroraktion“.
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