Kiew. In der Ukraine ist die Lage außer Kontrolle geraten. Nach blutigen Auseinandersetzungen nimmt die Polizei das Protestlager auf dem Maidan in Kiew ins Visier und begann den Unabhängigkeitsplatz zu stürmen. Bis zum späten Abend wurden mehrere Hundert Verletzte und mindestens 13 Tote gemeldet.
Nach Wochen angespannter Ruhe sind die Massenproteste in der Ukraine in schwere Gewalt mit mindestens 13 Toten und fast 400 Verletzten umgeschlagen. Sicherheitskräfte und Regierungsgegner lieferten sich am Dienstagabend am Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan) schwere Straßenschlachten, nachdem die Polizei gegen die Barrikaden vorgerückt war. Überall brannten Feuer, auch das Protestcamp stand in Flammen. Bei Auseinandersetzungen waren zuvor im Tagesverlauf mindestens sieben Zivilisten sowie sechs Polizisten getötet worden. Die meisten Toten hatten Schusswunden erlitten.
Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko fuhr am späten Abend zum Amtssitz von Präsident Viktor Janukowitsch. Das teilte Klitschkos Sprecherin am Dienstagabend mit. Auch der frühere Außenminister und Regierungsgegner Arseni Jazenjuk wurde nach Medienberichten zu dem Treffen erwartet.
Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte hatten zuvor begonnen, auf den von Tausenden Regierungsgegnern besetzten Unabhängigkeitsplatz vorzurücken. Das berichteten örtliche Medien. Die Polizei bewegte sich langsam mit Wasserwerfern zum Maidan vor. Vereinzelt marschierten zudem Spezialpolizisten der Berkut-Einheiten auf die brennenden Barrikaden zu. Demonstranten schossen mit Feuerwerkskörpern und versuchten, die Sicherheitskräfte mit starken Laserpointern zu blenden.
Ausschreitungen auch in anderen Orten der Ukraine
Das Innenministerium hatte kurz vor Beginn des Einsatzes die etwa 20.000 versammelten Regierungsgegner zum Verlassen des Platzes aufgefordert. Es folge eine "Anti-Terror-Operation", hieß es. Die Oppositionsführung rief Frauen und Kinder in ihren Reihen auf, den Platz zu verlassen.
Nach den blutigen Straßenschlachten in Kiew ist es offenbar auch in westukrainischen Städten zu schweren Ausschreitungen gekommen. In Ternopol rund 360 Kilometer westlich von Kiew versuchten Hunderte Regierungsgegner, ein Polizeigebäude zu stürmen. Die Demonstranten hätten Brandsätze geworfen, teilte das Innenministerium am Dienstag mit. Das Gebäude stehe in Flammen.
Auch aus Iwano-Frankowsk und Rowno gab es Berichte über Angriffe. In Lwiw (Lemberg) blockierten örtlichen Medien zufolge etwa 3000 Menschen eine Polizeikaserne. Die nationalistisch geprägte Gegend nahe der Grenze zu Polen gilt als Hochburg der radikalen Opposition.
Klitschko ruft Westen zur Intervention auf
Die ukrainische Opposition hat nach dem Beginn eines massiven Polizeieinsatzes im Zentrum Kiews Staatspräsident Viktor Janukowitsch zur Beendigung der Gewalt aufgefordert. "Lassen Sie nicht zu, dass die Ukraine ein Staat wird, der in Blut versinkt", rief Ex-Außenminister Arseni Jazenjuk am Dienstagabend auf dem Unabhängigkeitsplatz. "Unser Aufruf: Ziehen Sie die Polizei zurück und verkünden Sie einen sofortigen Waffenstillstand." Dann sei die Opposition zu Verhandlungen bereit.
Angesichts der brutalen Gewalt in der Ukraine hat Oppositionspolitiker Vitali Klitschko den Westen zur Intervention aufgefordert. Die Spitzen demokratischer Staaten dürften nicht tatenlos zusehen, "wie ein blutiger Diktator sein Volk tötet", sagte Klitschko einer Mitteilung seiner Partei Udar (Schlag) zufolge am Dienstagabend. "Die Regierung hat bewusst eine Provokation organisiert, um den Unabhängigkeitsplatz mit Blut und Gewalt auseinanderzujagen, und die Proteste und die Aktivisten zu vernichten." Der Ex-Boxweltmeister warf Präsident Viktor Janukowitsch ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor.
Kampf auf dem Maidan
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Die USA haben mit Entsetzen auf die Eskalation der Gewalt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew reagiert. Staatspräsident Viktor Janukowitsch wurde aufgefordert, den Konflikt umgehend zu entschärfen. "Wir verurteilen weiterhin die Gewalt auf der Straße und den übermäßigen Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten", sagte Regierungssprecher Jay Carney am Dienstag in Washington. Gewalt werde die seit Monaten anhaltende Krise in dem osteuropäischen Land nicht beenden. US-Vizepräsident Joe Biden spreche regelmäßig mit Janukowitsch, sagte Carney. Biden hatte den Staatschef zuvor mehrfach aufgefordert, den Dialog mit der Opposition fortzusetzen.
"Wir warnen die Hitzköpfe in den Reihen der Opposition"
Die Kiewer Stadtverwaltung hatte am frühen Abend den Tod von neun Menschen bei den Ausschreitungen in der ukrainischen Hauptstadt bestätigt. Rettungsärzte hätten die Leichen im Haus der Offiziere in der zentralen Gruschewski-Straße untersucht, teilte die städtische Gesundheitsbehörde nach Angaben der Agentur Interfax mit. Zur Todesursache wurden keine Angaben gemacht. Nach Oppositionsangaben waren drei Demonstranten von der Polizei erschossen worden. Insgesamt sollen am Dienstag fünf Menschen gewaltsam ums Leben gekommen sein.
Oppositionsführer Vitali Klitschko hatte am Nachmittag Frauen und Kinder aufgefordert, den Maidan-Platz zu verlassen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Sicherheitskräfte den Platz stürmten. "Wir appellieren an den Präsidenten und die Sicherheitskräfte, die gewaltsame Konfrontation zu beenden", rief er der Menge auf dem Maidan zu.
Regierung setzte Demonstranten Ultimatum
Zuvor hatte die ukrainische Regierung den Protestteilnehmern ein Ultimatum gestellt. Die Regierungsgegner hätten zwei Stunden Zeit, um ihre gewaltsamen Proteste zu beenden, erklärten das ukrainische Innenministerium und der Staatsschutz am Dienstagnachmittag. Sollte die Gewalt andauern, würden die Sicherheitskräfte ab 18.00 Uhr (Ortszeit, 17 Uhr MEZ) zu "schwerwiegenden" Maßnahmen greifen, um die öffentliche Ordnung zu sichern.
"Wir warnen die Hitzköpfe in den Reihen der Opposition: Die Regierung hat die Mittel, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen", hieß es in der Erklärung. "Wir sind gezwungen, zu schwerwiegenden Maßnahmen zu greifen, wenn die Gewalt nicht bis 18. 00 Uhr endet."
Bei den anhaltenden Oppositionsprotesten in der Ukraine war es am Dienstag erstmals seit knapp vier Wochen wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Dabei wurden nach Angaben von Oppositionsärzten drei Demonstranten getötet und etwa 150 weitere verletzt. DieBehörden haben die U-Bahn der ukrainischen Hauptstadt komplett geschlossen. Das teilte die Metroverwaltung der Agentur Interfax am Dienstag mit.
Vier Menschen sollen bei Straßenschlachten in Kiew getötet worden sein
Bei den Straßenschlachten in Kiew sind angeblich mindestens vier Menschen getötet worden. Drei Regierungsgegner seien erschossen worden, teilten Aktivisten bei Twitter mit. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es zunächst nicht. Bei der Erstürmung eines Büros der regierenden Partei der Regionen in Kiew wurde nach Angaben der Rettungskräfte mindestens ein Mann getötet.
Die Partei teilte Medien zufolge mit, bei dem Opfer handele es sich um einen Sicherheitsmann. Der Abgeordnete Oleg Zarjow sprach sogar von zwei Toten. Regierungsgegner hatten das Büro gestürmt und verwüstet. Nach Zarjows Darstellung legten sie dabei auch Feuer. Nach wenigen Minuten wurden sie von der Polizei vertrieben.
Fotos mit Priester sollen Todesopfer zeigen
Die angeblich getöteten Demonstranten sollen mit Schüssen in Herz und Kopf niedergestreckt worden sein. Die Opposition machte Mitglieder der berüchtigten Polizei-Spezialeinheit Berkut (Steinadler) verantwortlich. Im Internet kursierten Fotos von einem Priester, der drei mit Papier bedeckte Menschen segnete.
Die prominente Ärztin und Regierungskritikerin Olga Bogomolez sagte der Internetzeitung "Ukrainskaja Prwada", drei Tote seien in ein provisorisches Lazarett gebracht worden. Dutzende Menschen seien schwer verletzt, sagte sie. Im Marienpark nahe dem Parlament schleuderten Regierungsgegner Brandsätze und Steine auf Sicherheitskräfte, die mit Tränengas und Gummigeschossen feuerten.
Das Innenministerium warf den Protestierern vor, scharfe Munition eingesetzt und fünf Sicherheitskräfte angeschossen zu haben. Insgesamt seien mindestens 37 Beamte verletzt worden.
Steinmeier droht wegen Gewalt-Eskalation in Ukraine mit Sanktionen
Angesichts der Eskalation der Gewalt in der Ukraine hat Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) mit Sanktionen gegen Einzelpersonen gedroht. "Wer Entscheidungen zu verantworten hat, die zu einem Blutvergießen im Zentrum Kiews oder anderswo in der Ukraine führen, wird damit rechnen müssen, dass Europa die bisherige Zurückhaltung bei persönlichen Sanktionen überdenken muss", erklärte Steinmeier am Dienstag in Berlin. Die Opposition in der Ukraine fordert seit längerem Einreiseverbote in die EU für Regierungsmitglieder oder Kontensperrungen. Die EU hat das bisher abgelehnt.
"Eine Eskalation der Gewalt ist das letzte, was das Land jetzt gebrauchen kann", betonte Steinmeier. Die ukrainischen Sicherheitskräfte würden besondere Verantwortung für die jetzt dringend gebotene Deeskalation der Lage tragen. Bei den Straßenschlachten in Kiew sind nach offiziellen Angaben am Dienstag mindestens neun Menschen ums Leben gekommen. Sieben Zivilisten und zwei Sicherheitskräfte seien getötet worden. (afp/rtr/dpa)
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