Kiew. . Die ukrainische Opposition hat ein überraschendes Kompromissangebot der Staatsführung abgelehnt und stattdessen ihre Proteste auch in den Regionen ausgeweitet. In der Hauptstadt Kiew besetzten Demonstranten nach schweren Zusammenstößen mit der Polizei das riesige Kongresszentrum am Europaplatz.

Nicht nur die Luft über der Gruschewski-Straße im Kiewer Stadtzentrum scheint vom Gestank brennender Reifen-Barrikaden und vom Hass zwischen Demonstranten und Regierungsmacht vergiftet zu sein. „Die Staatsmacht kontrolliert das Land nicht mehr, die Opposition hat keinen Einfluss mehr auf die Proteste“, klagt der parteilose Parlamentarier Viktor Pilipischin. Die Ukraine droht im Chaos zu versinken.

Einige Cafés an dem von den Aufständischen besetzten Maidan-Platz haben an diesem Sonntag, der neue Gewalt für Kiew bringt, noch nicht geschlossen. Darin sitzen junge Ukrainerinnen, die über ihrem Make-Up Skimützen und orangefarbene Bauarbeiterhelme tragen. Draußen vor den Fenstern wachsen immer mehr Barrikaden aus Plastiksäcken voller Schnee, grau von Reif und Asche. Aber nicht nur Kiew verwandelt sich nach und nach in ein Schlachtfeld. Die ganze Ukraine scheint sich inzwischen dies- und jenseits solcher Barrikaden zu formieren.

Aufstand erfasst Provinzen

Der Aufstand erfasst die Provinzen, in den vergangenen Tagen haben Menschenmengen acht Gebietsverwaltungen besetzt, sechs weitere werden belagert. Mehrere dem Staatschef Viktor Janukowitsch treu ergebene Gouverneure wurden zum Rücktritt gezwungen.

Je weiter nach Osten, umso kürzer sind die Kolonnen der Demonstranten, umso erbitterter der Widerstand der Staatsmacht. In Tscherkask eroberte die Einsatzpolizei die besetzte Gebietsverwaltung zurück, über 50 Rebellen wurden festgenommen. In den traditionell prorussischen Regionen Donezk und Lugansk fordern Lokalparlamente, Janukowitsch solle den Ausnahmezustand ausrufen, um die Revolte zu ersticken. Aber selbst der Fanklub von Janukowitschs Lieblingsverein Schachtjor Donezk hat erklärt, er wolle auf der Seite der Aufständischen kämpfen.

Der Staatschef zeigt Nerven

Der Staatschef selbst zeigt Nerven. Am Samstag bot er Oppositionsführer Arseni Jatsenjuk das Amt des Regierungschefs an, Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko schlug er vor, Vizepremier zu werden. Außerdem versprach er, gefangene Regime-Gegner frei zu lassen. Und seine Partei werde auf der Sondersitzung des Parlaments am Dienstag die Skandalgesetze vom 16. Dezember zurückziehen, die praktisch alle Demonstranten zu Rechtsbrechern abstempeln.

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Die Führer der Oppositionsparteien wollen weiter mit Janukowitsch verhandeln. Zwar lehnte Klitschko den Job als Vizepremier prompt ab, Jatsenjuk aber gab sich zweideutig: „Das Angebot ist nicht angenommen und nicht abgelehnt.“ Dafür wurde er vom Volk auf dem Maidan ausgepfiffen.

„Janukowitsch wird politisch nicht überleben“, sagt der Publizist Ayder Muschdabajew. „Die Frage ist nur, wie viel Blut vorher noch vergossen werden muss.“ Nach Angaben der Zeitung Serkalo Nedeli hat das Innenministerium bei der Armee vier Millionen scharfe Pistolenpatronen bestellt. Und viele Regimegegner befürchten, dass Janukowitschs sanften Worten wie schon einige Male zuvor neue Repressionen folgen.

Auf der schwarzen Liste

„Nach meinen Informationen will Janukowitsch schon bald sieben Parlamentsabgeordnete festnehmen lassen“, sagt der Oppositionsparlamentarier Sergei Kaplin. Auf der schwarzen Liste stünde auch Vitali Klitschkos Rechtsexperte Waleri Karpunzow.

Die Pressestelle des Innenministeriums ihrerseits klagt, die Rebellen mischten Natrium in ihre Molotowcocktails, um die Einsatzpolizisten bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Elitemilizionäre in Kiew, übermüdet und frierend, laufen Amok. Einen an der Gruschewski-Straße gefangenen Straßenkämpfer zogen sie nackt aus, verprügelten ihn – und filmten den Vorfall.

Die Opposition glaubt, statt amtlich registrierter sieben Todesopfer seien schon über 100 Janukowitsch-Gegner umgekommen. Polizeischläger hätten sie in die Wälder bei Kiew verschleppt und dort zu Tode geprügelt. Aus den Lautsprechern am Maidan tönen jetzt statt Popmusik Gebete. Und eine Quelle aus der Regierungspartei sagt, schon seien in Kiew etwa 1000 Kämpfer der russischen Antiterroreinheit „Witjas“ im Einsatz, sie trügen Uniformen der Polizei.