Essen. . Kurz vor der Veröffentlichung der neuen Pisa-Ergebnisse fordert die Bertelsmann-Stiftung einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz. Das ermögliche besseren Unterricht. Außerdem würde so die Akzeptanz des Turbo-Abiturs erhöht, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Stiftung.
Keine Reform, keine Debatte hat in das Bildungswesen in Deutschland so viel Bewegung gebracht wie die erste Pisa-Studie aus dem Jahr 2000. Dass deutsche Schüler mit Gleichaltrigen anderer Industrienationen nicht mithalten können, löste einen Schock unter Eltern, Lehrern, Experten und Politikern aus.
Nur ein gutes Jahrzehnt später ist Deutschland aus der Talsohle heraus: Wenn in wenigen Tagen die Ergebnisse von Pisa 2012 veröffentlicht werden, dürfte es schon überraschen, sollten die deutschen Schüler nicht irgendwo im oberen Mittelfeld liegen.
Drama zwischen Sachsen und Bremen
Bildungsexperte Jörg Dräger warnt dennoch davor, die Fortschritte uneingeschränkt zu loben. „Das obere Mittelfeld reicht nicht für eine Industrienation mit einem hohen Lohnniveau“, sagt er. „Obendrein ist das wahre Drama nicht das Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich. Das wahre Drama ist, dass zwischen Sachsen und Bremen ein Leistungsgefälle besteht, das bis zu zweieinhalb Unterrichtsjahre ausmacht“, sagt das Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung dieser Zeitung.
Ans Licht brachte dieses Gefälle Pisa-E, die Ländervergleichsstudie. Demnach gehört auch NRW zu den schwachen Ländern.
Doch genau dieser Ländervergleich wird bei der aktuellen Studie keine Rolle mehr spielen – die Bundesländer haben ihn nicht mehr gewollt und einfach abgeschafft. „Ich habe die Sorge, dass nun die Fakten wieder unter den Tisch gekehrt werden“, sagt Dräger. „Denn wenn ich nicht weiß, dass Bayern NRW abhängt – dann kann ich auch nichts lernen und verbessern.“
Die Herkunft entscheidet
Dabei gibt es einiges zu tun, gerade in Nordrhein-Westfalen, wo viele Kinder aus sozial schwachen Familien leben. Denn das Bildungssystem wird von drei Problemen beherrscht: „20 Prozent scheitern, der Bildungserfolg hängt viel zu stark von der Herkunft ab, und das obere Drittel stagniert“.
Seine Sorge, dass sich die schwachen Bundesländer mangels neuer Fakten ausruhen könnten, ist begründet.
Denn vor Pisa, in den 1970er- und 1980er-Jahren, nahm Deutschland an keiner internationalen Bildungsstudie teil. Erst 1995 sorgte die Studie Timss für Aufsehen, die deutschen Schülern nur mittelmäßige Kenntnisse der Mathematik bescheinigte. Beherrscht wurde die Zeit ohne Bildungsstudien durch den Streit um das dreigliedrige Schulsystem und die Einführung der Gesamtschule. Eine Qualitätsdebatte gab es nicht.
Zweigliedrig ist die Zukunft
Für Dräger hat sich der Streit um die Struktur längst überholt. Selbst das dreigliedrige Schulsystem sorge nicht dafür, dass Kinder mit ähnlichen Begabungen in Klassen gruppiert werden. „Homogene Lerngruppen sind heute eine Illusion, auch in einem gegliederten Schulsystem“, sagt der Experte. Längst sei auch die Schülerschaft auf dem Gymnasium höchst unterschiedlich. Den so genannten Mittelkopf, also den Durchschnittsschüler, nach dem sich der Lehrplan ausrichte, „den gibt es heute nicht mehr“. Die Leistungsstarken und -schwachen um ihn herum würden immer mehr.
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Dräger ist sich mit anderen Bildungsexperten wie dem Dortmunder Schulforscher Ernst Rösner einig: „Das Schulsystem der Zukunft ist zweigliedrig“, sagt er. Selbst die konservative Politik akzeptiert langsam, dass Eltern und Kinder Schulen wünschen, die ein Abitur ermöglichen. Da in den Klassen nun Kinder mit unterschiedlichen Begabungen sitzen, müsse sich der Unterricht eben danach richten.
Entspanntere Schüler
Individuelle Förderung – so lautet der Begriff, mit dem nun so gut wie jede Schule wirbt. Also mit einem Unterricht, der die Fähigkeit jedes einzelnen Kindes berücksichtigt. Das bedeutet im Idealfall: Mehr Zeit für die Schwachen, mehr Vertiefung, mehr Stoff für die Starken. Unterschiedliche Hausaufgaben, Freiarbeit, Projekte. Lern- und Erholungsphasen, die sich abwechseln, am besten über den Tag verteilt.
„Die Ganztagsschule bietet den nötigen Rahmen für die individuelle Förderung“, sagt Dräger und schwärmt über die guten Pisa-Ergebnisse in Sachsen, wo 80 Prozent der Schüler eine Ganztagsschule besuchten. Dort seien die Schüler entspannter, denn „durch die Ganztagsschule gibt es weniger Sitzenbleiber, ein besseres Sozialverhalten und weniger Stress zwischen Eltern und Kind“.
Mehr Zeit für Eltern
Tatsächlich bliebe in anderen Ländern mit Ganztagsbetreuung Eltern mehr Zeit, sich für die Schule zu engagieren – und damit zum Nutzen aller. In Deutschland engagierten sie sich für ihr Kind, für die Hausaufgaben – zum Nutzen des Kindes. Dräger: „Auch das verstärkt die soziale Auslese.“