Berlin. . Bei den Sozialdemokraten regt sich Widerstand an der Basis gegen eine schwarz-rote Koalition. Wenige Tage vor Abschluss der Verhandlungen mit der Union seien viele Mitglieder entschlossen, ihrer Führung die Gefolgschaft zu verweigern, heißt es in Umfragen in Ortsvereinen
Wenn Olaf Schreglmann seine Partei richtig kennt, dann hat Sigmar Gabriel bald ein Problem. „Wir Sozis stimmen immer mit dem Herzen ab. Nicht nur mit dem Verstand“, sagt der SPD-Mann aus Nürnberg. Hier das Gefühl, wahlweise in Herz oder Bauch lokalisiert, und dort der Kopf: So nähert man sich der Frage, die bald 470.000 SPD-Mitglieder umtreiben dürfte. Für oder gegen eine Große Koalition? Es gibt nur Ja oder Nein.
Das Bauchgefühl kennt Gabriel, „das ist doch klar“. Aber: „Am Ende werden wir den Kopf einschalten müssen“, rief er am Samstag auf einer Konferenz im rheinland-pfälzischen Ochtendung aus. Es gehe um Inhalte, beschwor er die Basis, „nicht um Befindlichkeiten“.
Viele Genossen sträuben sich gegen die Koalition
Es ist Wunschdenken. Viele in der Partei sträuben sich gegen eine Koalition mit der Union schon bevor ein Vertrag vorliegt. Und es sind nicht lauter Dummköpfe, ganz im Gegenteil. Seit Samstag reiht sich in die Front der Neinsager ein Nobelpreisträger ein: Günter Grass.
Ein Teil der Partei, vor allem ältere Mitglieder, empfindet ihn als Mentor der SPD. Trifft er die Stimmung? Es gibt keine Umfrage darüber. Niemand weiß, wie die schweigende Mehrheit denkt. Ist sie „örtlich betäubt“, wie ein Grass-Buch heißt, und proben die Plebejer den Aufstand, noch so ein Grass-Titel, der sich aufdrängt.
Grass ist nicht allein. Auch andere Autoren, Schauspieler, Musiker und Wissenschaftler raten zu einem Nein, zum Beispiel Hanna Schygulla, Roger Willemsen, Ingo Schulze oder der Philosoph Oskar Negt sowie der Theologe Friedrich Schorlemmer. lm aktuellen „Spiegel“ schreibt der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink, warum die SPD nicht mit der Union koalieren sollte. Fazit: „Großer Irrtum.“ Wie er sorgen sich viele, dass die Sozialdemokratie „wieder verliert“. Die Erinnerung an die letzte Koalition mit Angela Merkel ist allgegenwärtig. Wie „ausgemerkelt“ sieht ihre Partei erst nach weiteren vier Jahren aus?
Realpolitik prallt auf Prinzipientreue
Da prallen Welten aufeinander, Realpolitik und Prinzipientreue. Zur Realpolitik, wie Gabriel sie sieht, gehört beispielsweise ein Erfolg mit dem Mindestlohn. Die SPD hat vor den Koalitionsgesprächen mit der Union zehn Kernaufträge formuliert, nahezu alle in der Sozialpolitik. Nun argumentiert Gabriel, wenn man die Chance habe, etwas durchzusetzen, dürfe man Menschen nicht im Stich lassen, „damit wir uns besser fühlen“. Wenn die SPD zu Verbesserungen Nein sage, „wäre sie eine andere Partei als in den letzten 150 Jahren“. Gabriel neigt zu Pathos. Was er eigentlich sagen will, ist, dass die Mitglieder genauso abwägen müssen wie er; und dass sie genauso der Verantwortung gerecht werden sollen.
Es ist ein riskantes Spiel, das er am Samstag in Ochtendung und in den nächsten Tagen bei vielen anderen Konferenzen treiben wird. Er tut so, als sei nur ein Ja verantwortbar und rational, alles andere aber irrational. Dabei treiben auch ihn Gefühle um: Gabriel hat Angst vor den Folgen eines Scheiterns. Die gesamte SPD-Führung wäre blamiert. Und was wäre damit gewonnen? „So einfach wird es dann auch nicht – hinterher“, sagt er. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Falls die Union doch noch mit den Grünen handelseinig wird, wäre die SPD de facto machtpolitisch isoliert. Kommt es zu Neuwahlen, wird sie von den Bürgern wohl abgestraft. Nun rächt sich vieles, politisch wie organisatorisch. Die Finanzpolitik überließ die SPD weitgehend der Union. Das schränkt nicht nur den Verteilungsspielraum ein; auch die Gerechtigkeitsfrage leidet. Wenn bis Mittwoch ein Vertrag vorliegt, bleiben wenige Tage für Überzeugungsarbeit. Bis zum 12. Dezember sollen ja die Briefe mit den Antworten vorliegen. Da die Mitglieder ihre Antwort mit der Post abschicken und nicht direkt bei der SPD vor Ort abgeben, wird es ihnen leicht gemacht, Nein zu sagen – sie müssen sich nicht rechtfertigen.
Wie eine Geburt ohne Vorfreude
Gabriel weiß, dass er mehr liefern muss. Für die Schlussphase der Verhandlungen verspricht der Parteichef mehr Ehrlichkeit in der Sache: Klare Entscheidungen, Ja oder Nein, „ohne Prüfaufträge, ohne Finanzierungsvorbehalt“, sagt er.
„Der Fisch“, gibt der unterlegene Spitzenkandidat Peer Steinbrück zu, sei „noch nicht gebürstet“. Das heißt wohl, dass der Koalitionsvertrag noch ungenießbar ist und dass die Basis ihn ausspucken könnte. Gabriel sagte am Samstag, er wisse nicht, ob es in dieser Woche zu einem Koalitionsvertrag kommen werde. Die Union stellt sich auf harte Tage ein. Auch sie ist es ziemlich leid. „Wir wollen nicht als Hebamme für die SPD tätig werden“, so CSU-Chef Horst Seehofer. Es wird eine Geburt ohne Vorfreude.