Leipzig. . Es ist ein SPD-Parteitag der leisen Töne und der nüchternen Vernunft: Nur wenige stellen den Parteichef in Frage. Gabriel wird wiedergewählt, aber nicht mit einem tollen Ergebnis. Die Partei ringt mit sich selbst. Die Skepsis gegenüber einer großen Koalition ist auf dem Parteitag deutlich spürbar.
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Am Anfang steht Zerknirschung. Der gescheiterte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sagt gleich als erster Redner auf dem SPD-Parteitag, die Hauptverantwortung für das „mehr als enttäuschende Wahlergebnis“ am 22. September übernehme selbstverständlich er. Dann spricht Parteichef Sigmar Gabriel und stellt klar: „Die politische Gesamtverantwortung für dieses Wahlergebnis trage ich als Vorsitzender.“
Nur haben die Eingeständnisse unterschiedliche Folgen auf dem Konvent in Leipzig: Für den gerührten Steinbrück ist es die letzte große Parteirede, er bekommt freundlichen, langen Applaus. Gabriel dagegen erntet zwar nur schlappen Beifall. Er wird später von den Delegierten zum dritten Mal zum Parteivorsitzenden gewählt. 83 Prozent der Stimmen bekommt er, acht Prozent weniger als vor zwei Jahren.
Der Vorsitzende soll nicht beschädigt werden
Dennoch: Die Genossen wollen den Vorsitzenden nicht beschädigen in den Verhandlungen mit der Union – auch wenn viele der Großen Koalition mit größten Bedenken entgegensehen. Die Angst geht um auf diesem Konvent: Die Parteispitze fürchtet eine Niederlage beim Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag, ein Teil der Delegierten fürchtet das Bündnis mit der Union.
Deshalb hält auch Parteichef Gabriel eine ungewöhnlich nachdenkliche Rede. Natürlich verteidigt er den Weg in die Regierung: Es gehe nicht um eine „Liebesheirat“, sondern um eine „befristete Koalition der nüchternen Vernunft“. Die SPD könne viel für die Menschen erreichen. Sie dürfe nicht „Alles oder nichts“ spielen. Abermals nennt Gabriel die bekannten Bedingungen - vom Mindestlohn bis zum Doppelpass - deren Erfüllung im Grundsatz längst geklärt ist.
Zugleich lockt der Vorsitzende mit der Perspektive, dass 2017 neue Mehrheiten möglich seien – auch Rot-Rot-Grün. „Ja, wir sind offen für solche Koalitionen“, sagt Gabriel. „Aber Vorsicht“, fügt er hinzu: Dass es jetzt noch kein Bündnis mit der Linkspartei gebe, liege nicht an einer „Ausschließeritis“ der SPD. Das sei eine Legende der Linken. Der Schlüssel für Rot-Rot-Grün liege bei der Linken, die sich inhaltlich ändern müsse.
Sozialdemokraten gehören auch zu "denen da oben"
Länger befasst sich Gabriel mit einer Analyse der Wahlniederlage. Es fehle der SPD an Wirtschaftskompetenz, sie habe die Wähler von ihrer sozialen Kernkompetenz nicht überzeugen können. Auch werde die „kulturelle Kluft“ zwischen den SPD-Repräsentanten und den Wählern immer größer . Er erzählt die Geschichte von seiner Ehefrau, die Anfang des Jahres eine Zahnarztpraxis im Goslarer Industrie-Stadtteil Oker übernommen hatte. Nachdem die örtliche Zeitung darüber berichtete, rief eine Patientin an und fragte, ob denn zur Ehefrau des SPD-Vorsitzenden auch noch einfache Leute kommen dürften „oder nur noch die Oberen?“ Dass Sozialdemokraten als „die da oben“ wahrgenommen würden, das sei erschreckend, meint Gabriel.
Am liebsten würden die meisten in die Opposition gehen
Und so teilen die meisten Delegierten zwar seine Analyse, doch viele fänden eine Absage an die Große Koalition nur konsequent. Immer wieder berichten Genossen, wie breit die Ablehnung in ihren Ortsvereinen sei. Immer wieder gibt es Kritik daran, dass die Parteispitze frühzeitig auf die Forderung nach Steuererhöhungen für Reiche verzichtet hat.
„Wir müssen erkennbar bleiben für unsere Anhängerschaft“, sagt SPD-Fraktionsvize Joachim Poß. Die engere SPD-Führung versucht, die Bedenken aufzunehmen. Parteivize Manuela Schwesig berichtet, sie habe bei den Koalitionsgesprächen „keine Bauchschmerzen, sondern Magenkrämpfe“, dennoch könne viel erreicht werden. Vizechefin Hannelore Kraft schildert ausgiebig, warum sie eine Koalition jetzt befürworte: „Die anderen haben beigedreht“. Der skeptische Juso-Chef Sascha Vogt meint hingegen: „Wenn ich mir die Stimmung hier anschaue, muss ich sagen: An diesem Bauchgefühl hat sich nicht viel geändert.“