Berlin. Ein Vorstoß von CSU und SPD für Volksentscheide sorgt für Ärger bei den Koalitionsverhandlungen. Die Union ist strikt dagegen. Aber das Thema ist nun in der Welt. Die Befürworter von Bürgerentscheiden jubeln und sprechen von einer historischen Chance: auf mehr Freude an der Demokratie.
Ein Vorstoß von CSU und SPD für Volksentscheide in der Europa-Politik sorgt für Ärger bei den Koalitionsverhandlungen. Mehrere CDU-Politiker kritisierten, das Vorhaben sei nicht mit ihnen abgestimmt. Auch Kanzlerin Merkel lehnte die Idee in einer unionsinternen Besprechung am Dienstag ab.
Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU und der SPD-Politiker Thomas Oppermann als Leiter der Arbeitsgruppe Innen hatten sich nach Angaben aus Verhandlungskreisen auf einen Formulierungsvorschlag für die große Koalitionsrunde am Mittwoch verständigt, der auch Volksentscheide zu wichtigen Themen in der Europapolitik vorsieht. Dies ist eine alte Forderung der CSU. Oppermann sagte, der SPD gehe es grundsätzlich um die behutsame Einführung von Volksentscheiden.
Die Bayern haben es vorgemacht: Nein zu Olympia
Gelegenheit macht nicht nur Diebe, wie es im Volksmund heißt. Manchmal macht sie Visionäre. Für Thomas Oppermann wäre eine Große Koalition „ein einmaliges Fenster der Gelegenheit“: Um Volksbefragungen durchzusetzen. In der Bevölkerung wachse der Wunsch nach stärkerer Beteiligung. So steht es in dem Text, den der SPD-Mann und Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) entworfen haben. Was wie eine kühne Einigung von Union und SPD klang, entpuppte sich gestern alsbald als Luftbuchung. Friedrich räumte ein, dass es keine Signale der CDU gebe, „dass man das mittragen würde“. Im Gegenteil: „Wir werden dem Vorschlag nicht zustimmen“, stellte ihr Innenpolitiker Günter Krings kategorisch fest.
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Friedrich und Oppermann sind über ihren Coup glücklich. Sie haben eine Diskussion entfacht, populär ist das Anliegen; beide Parteien kämpfen dafür. Und Friedrich - allzu oft über Kreuz mit seinem Parteichef - demonstrierte der CSU, dass er und Horst Seehofer doch Brüder im Geiste seien können. Volksbefragungen sind in Bayern erlaubt, gerade erst stoppte das Volk eine Olympia-Bewerbung.
Angela Merkel wird entscheiden
Der CDU kam der Vorstoß ungelegen, in der Sache wie im Stil. Sie wurde isoliert, und daran erkennt man ein Muster der letzten Wochen: Schon ein ums andere Mal sah es in den Verhandlungen so aus, als würden die Populisten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) trickreich in die Zange nehmen. Nun fragt man sich, ob sie das neue Begehren gleich heute zurückweisen wird oder das Ende der Koalitionsverhandlungen abwartet.
Was die kleineren Parteien umtreibt, ist kein Geheimnis. Oppermann hatte die CSU mit der Aussicht gereizt, das Betreuungsgeld zur Abstimmung zu stellen. Es ist eine Errungenschaft der CSU - die SPD würde sie gern rückgängig machen. Was ihr in den Koalitionsverhandlungen misslang, sollte das Volk zu Fall bringen. Umgekehrt schwebte Friedrich vor, das Volk über einen EU-Beitritt der Türkei oder die doppelte Staatsbürgerschaft zu befragen.
Das Grundgesetz sieht bisher nur für zwei Fälle Volksabstimmungen vor: In Artikel 29 für die Neugliederung des Bundesgebietes sowie in Artikel 146, wenn eine neue Verfassung ansteht. Die CSU möchte, dass das Volk bei europapolitischen Entscheidungen „von besonderer Tragweite“ direkt befragt wird; insbesondere für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, wenn wichtige Kompetenzen nach Brüssel abwandern sollen oder Deutschland bezahlen soll.
Die SPD plant von vornherein hohe Hürden ein
Die SPD will Volksbefragungen nicht auf Europa beschränken und strebt nur einen „behutsamen Einstieg“ an. Ihre Vorschläge sind sehr restriktiv. So sollen Bürger Erste Hürde: Die Bürger sollen nur über neue Gesetze befinden. Es bleiben ihnen dafür - zweite Hürde - nur sechs Monate nach Gesetzesabschluss Zeit. Dritte Hürde: Man muss mindestens eine Million Unterschriften sammeln. Vierte Hürde: Erfolgreich wäre ein Referendum, wenn 25 Prozent der Wähler, also 15 von 60 Millionen, zustimmen. Fünfte Hürde: Soll die Verfassung geändert werden, läge das Quorum bei 33 Prozent. Sechste Hürde: Ist das Gesetz im Bundesrat zustimmungspflichtig, „muss zudem das Referendum in so vielen Ländern Erfolg haben, wie es einer Bundesratsmehrheit entspricht“.
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Nach den Vorstellungen der SPD sollen auch Abgeordnete die Chance haben, zu einem neuen Gesetz ein Referendum anzusetzen. Allerdings bräuchten sie dafür eine „Zwei-Drittel-Mehrheit“ im Bundestag. Trotz des „Kleingedruckten“ bleibt die CDU bei ihrer Ablehnung. CDU-Mann Krings sorgt sich, dass die Position des Bundestages geschwächt wird. Außerdem warnt er vor einer „unnötigen Polarisierung“. CSU und SPD dürften keine Chance haben, den Worten Taten folgen zu lassen.
Jurist spricht von „unvollkommener Demokratie“ in Deutschland
Der Osnabrücker Jurist Hermann K. Heußner, Herausgeber des Buches „Mehr Demokratie wagen“, sagte gestern dieser Zeitung: „Diverse Umfragen zeigen: Die Bevölkerung fordert seit langem mehr direkte Demokratie. Bis zu 80 Prozent der Bundesbürger sind dafür, übrigens auch eine Mehrheit der CDU-Wähler. Wir haben in Deutschland leider nur eine ,unvollkommene Demokratie’. Oft setzen sich in der rein repräsentativen Demokratie Minderheiten durch, weil die politischen Spielregeln dies so ermöglichen. Bei der Frage der Bürgerversicherung oder beim Mindestlohn -- gefordert von einer Mehrheit der Bevölkerung -- haben sich lange politische Minderheiten im Parlament durchgesetzt. Unsere Demokratie hat ,Ermüdungserscheinungen’. 70 Prozent Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen sind ein Beleg dafür. Viele Menschen wünschen sich, die Demokratie möge anders funktionieren. Volksabstimmungen würden die Freude an der Demokratie stärken.“
Alexander Trennheuser, Sprecher des Vereins „Mehr Demokratie“, ist froh, dass die Volksabstimmung in Berlin auf der Tagesordnung steht. „Dass SPD und CSU gemeinsam dafür stehen, ist neu, und es ist eine historische Chance, die Tür für die direkte Demokratie in Deutschland zu öffnen.“