Bochum. . Der Erste Weltkrieg ist schon fast vergessen: In Deutschland gibt es kein Museum zu den Jahren 1914-1918. Wie gut, dass im Internet Ersatz geschaffen wird. „Europeana“ zeigt die große Geschichte aus Sicht der kleinen Leute – mit viel Hilfe aus Nordrhein-Westfalen.

Deutschland hat jetzt Gelegenheit, etwas nachzuholen. In Großbritannien und Frankreich, wo sie den Ersten Weltkrieg schon immer als „Great War“ und „Grande Guerre“ bezeichnen, blüht seit fast hundert Jahren eine reiche Erinnerungskultur. Es gibt faszinierende Museen und liebevoll gepflegte Gräber. Ganz anders sieht es in Deutschland aus, das vier Jahre lang im Mittelpunkt dieses Wahnsinns stand – und doch bis heute kein einziges großes Museum zum Ersten Weltkrieg hat.

Wie mit dem offiziellen Gedenken, so ist es auch mit dem privaten. Wolfgang Mergner bestätigt das sofort. Der Bochumer ist am Freitag ins Stadtarchiv gekommen, um Erinnerungsstücke an den Ersten Weltkrieg aus seiner Familie digitalisieren zu lassen. Er hat einen Schatz unterm Arm, was genau, wird er uns noch zeigen. Und doch sagt er: Über den Zweiten Weltkrieg wird in der Familie gesprochen, über den Ersten Weltkrieg – nie.

Ein praktisches Holzbein mit Wechselaufsatz

Dabei gibt es auch in vielen deutschen Haushalten noch Erinnerungsstücke an diesen Krieg: Fotos, Briefe, Tagebücher, Mitbringsel aus fremden Ländern. Das Internet-Archiv „Europeana“ sucht solche Objekte, fotografiert sie, scannt sie ein und stellt diese Abbildungen ins Internet. Überraschendes und anrührendes aus allen Gegenden Europas hat sie schon entdeckt: etwa das Tagebuch eines rumänischen Matrosen, der auf einem österreichischen Kriegsschiff in japanische Kriegsgefangenschaft geriet.

Die Europeana sammelt, was Familien aufgehoben haben

Die Europeana versteht sich als digitale Bibliothek, Museum und Archiv Europas. Gegründet 2008 auf Betreiben der EU-Kommission, ist sie inzwischen auf 26 Millionen Dokumente und Objekte angewachsen. Jeder Internetnutzer kann darin stöbern – und selbst etwas dazu beitragen.

Die Mitmach-Sammlung zum Ersten Weltkrieg umfasst bislang 50.000 Objekte aus ganz Europa. Sie ist ein Gegenprogramm und eine Ergänzung zu den großen Staatsarchiven – denn sie dokumentiert die Geschichte konsequent aus Sicht der kleinen Leute.
www.europeana1914-1918.eu

Oder die Bibel, die einem Soldaten aus Sachsen das Leben rettete, weil sie einen Granatsplitter fing, der noch heute zwischen den Buchdeckeln steckt. Oder das Holzbein eines slowenischen Versehrten samt Wechselaufsatz: den groben Stumpf für den Acker, die Fußnachbildung zum Ausgehen.

Wer nicht aufpasst, versenkt sich für Stunden beim Online-Blättern in der Europeana – die gerade für deutsche Geschichtsinteressierte ein Geschenk ist, weil es ein Museum ja nun mal nicht gibt. Was geben die Deutschen dafür zurück?

„Schön“, murmelte der Kaiser im Sommer 1917

Blick in die Kiste, die Wolfgang Mergner ins Bochumer Stadtarchiv gebracht hat: Sein Großvater hat Tagebuch geführt, 23 Bände, winzige Bleistift-Notizen auf kariertem Papier. Jeden Tag in seiner bayerischen Landwehr-Einheit hat er festgehalten, auch jenen im Sommer 1917, als der Kaiser persönlich die Parade abnahm. „Hurraa!“ riefen die Soldaten, der Kaiser murmelte „Schön“.

Blick in die Kiste, die ein anderen Bochumer mitgebracht hat: Eine Tasse mit Soldatenmotiven. „Auf einsam stiller Wacht / habe ich an meine liebe Mutter gedacht“, steht darauf, sie ist über und über mit Gold verziert. Man staunt, zu welchem Kitsch die Kaiserzeit fähig war – und schluckt doch bei der Geschichte: Ein Rekrut schenkte sie seiner Mutter, als er 1914 aus dem Militärdienst entlassen wurde. Dann kam der Krieg, er wurde sofort wieder eingezogen und fiel gleich in den ersten Wochen bei Lüttich.

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Blick in die Aufzeichnungen eines deutschen Fliegers: Er wurde wohl abgeschossen und geriet in britische Kriegsgefangenschaft. Es dauerte nach dem Ende des Krieges zwei Jahre, bis er wieder frei kam. Dass es auch nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie Spätheimkehrer gegeben habe, sei bislang kaum bekannt gewesen, sagt Frank Drauschke, der den Aktionstag in Bochum leitete.

Jeder kann zu Hause weitermachen

Bochum war die letzte Station, die die Europeana-Mitarbeiter in NRW besuchten. Freitagabend zogen sie Bilanz: In Bonn, Aachen und Bochum haben über 200 Menschen ihre Erinnerungsstücke gezeigt. Etwa 12.000 Fotos und Kopien wurden gemacht. Nun zieht Drauschke mit seinen Scannern nach Bremen, aber er bittet nach wie vor um Beiträge aus NRW. Es ist dafür nicht zu spät: Jede Familie, die zu Hause etwas findet, kann es selbst in das Archiv einstellen. Man braucht nur eine Digitalkamera oder einen Scanner und einen halben Abend Zeit, um nachzuholen, was Jahrzehnte versäumt wurde.