Wiesbaden. Die Hessen-Wahl hat am Sonntag eine Rückkehr zu “hessischen Verhältnissen“ gebracht: Den Hochrechnungen zufolge blieb die CDU zwar stärkste Kraft, verlor aber ihren Koalitionspartner FDP, der knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Auch Rot-Grün kam nicht auf eine eigene Mehrheit, da die Linke den Wiedereinzug in den Landtag schaffte. Damit erscheint die Regierungsbildung völlig offen.
Schwarz-Gelb am Ende, Debakel für die FDP, Rot-Rot-Grün möglich: Nach der Landtagswahl am Sonntag steht Hessen vor einer schwierigen Regierungsbildung. Die CDU wird den Hochrechnungen zufolge stärkste Partei, die bisher mitregierende FDP fliegt jedoch aus dem Parlament. Die SPD, die 2009 in ihrer einstigen Hochburg auf ein historisches Tief abgesackt war, legt kräftig zu. Für einen Machtwechsel braucht Rot-Grün jedoch die Linken - die sprichwörtlichen "hessischen Verhältnisse" sind zurück. Auf jeden Fall eine gute Nachricht: In Hessen gingen so viele Menschen zur Landtagswahl wie seit 1987 nicht mehr. Die Wahlbeteiligung lag nach einer Hochrechnung der ARD bei 73,6 Prozent (2009: 61,0).
SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel (43) wollte sich am Wahlabend nicht auf eine Bündnisoption festlegen, er machte aber deutlich, dass die SPD eine Regierungsbeteiligung anstrebt. CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier (61) sieht einen klaren Auftrag für seine Partei zur Regierungsbildung. Er bot am Abend sowohl der SPD als den Grünen Gespräche über eine mögliche Koalition an. "Ich hab da keine Präferenzen", sagte Bouffier im Hessischen Rundfunk (hr). "Wir sind bereit für faire Gespräche. Wer auch immer dann eine inhaltliche Mehrheit zusammen bringt, stellt die Regierung."
Linke ist offen für Rot-Rot-Grün
Rechnerisch möglich ist in Hessen neben Rot-Rot-Grün auch eine Koalition von CDU und SPD sowie Schwarz-Grün. Rot-Rot-Grün hatte Schäfer-Gümbel im Vorfeld allerdings "politisch" ausgeschlossen, "formal" jedoch nicht und sich somit ein Hintertürchen offengelassen. Bouffier verlangte von seinem Widersacher im Wahlkampf vergeblich ein "Ehrenwort", nicht mit der Linken zu koalieren.
Die Linke zeigte sich am Wahlabend offen für eine Koalition mit SPD und Grünen. Die neuen Mehrheiten im Parlament müssten für einen Politikwechsel genutzt werden, sagte die Spitzenkandidatin der Linken, Janine Wissleraus. Ihre Partei sei "natürlich auch bereit, darüber zu reden".
Schäfer-Gümbels Vorgängerin Andrea Ypsilanti war 2008 mit dem Versuch gescheitert, sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Vier Abweichler ließen die Wahl damals platzen. Daraufhin stürzte die SPD bei der vorgezogenen Landtagswahl 2009 ab.
Den Hochrechnungen von ARD und ZDF (21.00 Uhr) zufolge verbesserte sich die SPD nunmehr um rund 7 Punkte auf 30,5 bis 31,0 Prozent (2009: 23,7). Stärkste Partei wurde erneut die seit 15 Jahren in Hessen regierende CDU, die um etwa 2 Punkte auf 39,0 bis 39,6 Prozent zulegte (2009: 37,2). Die FDP brach nach ihrem Spitzenergebnis 2009 (16,2) um mehr als 11 Punkte auf 4,6 bis 4,8 Prozent ein. Die Grünen lagen mit 10,4 bis 11,0 Prozent rund 3 Punkte unter ihrem damaligen Rekordergebnis (13,7). Die Linke erreichte 5,4 bis 5,6 Prozent (2009: 5,4). Die erstmals angetretene eurokritische AfD scheiterte mit rund 4 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde.
Die Sitzverteilung sieht demnach so aus: CDU 50 bis 51 (2009: 46 Mandate), SPD 39 bis 40 (29), Grüne 13 (17), Linke 7 (6). Der Wiesbadener Landtag umfasst regulär 110 Sitze, es kann aber Überhang- und Ausgleichsmandate geben. (dpa)
Gewinner und Verlierer
"Steinbrück-Effekt" bei Bundestagswahl in Hessen
Kein "Merkel-Effekt" in Hessen, aber ein kleiner "Steinbrück-Effekt": Die Hessen haben bei der Bundestagswahl am Sonntagabend fast genauso abgestimmt wie bei Landtagswahl. Die CDU kam nach einer Hochrechnung in Hessen bei der Bundestagswahl auf 39,3 Prozent und wurde damit stärkste Partei. Dies ist nach 96 ausgewählten Stimmbezirken ein Plus von 7,1 Prozentpunkten im Vergleich zur Wahl 2009, wie das Statistische Landesamt am Sonntag mitteilte. Bei der Landtagswahl stand die Union am Abend ebenfalls bei 39,3 Prozent. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) gratulierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu einem "überragenden Erfolg".
Die SPD kam bei der Bundestagswahl in Hessen auf 29,5 Prozent (+3,9 Punkte), im Land lag die Partei bei 31,1 Prozent. Ein Grund für die Abweichung könnte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gewesen sein, der seit seiner Nominierung mehrfach mit umstrittenen Aussagen für Schlagzeilen gesorgt hatte. "Wir hätten uns ein besseres Ergebnis in Berlin gewünscht", sagte Hessens SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel.
Die hessischen Grünen fielen im Bund auf 9,6 Prozent (-2,4) und schnitten damit schlechter ab als bei der Landtagswahl: Dort erreichten die Grünen laut Hochrechnung 10,4 Prozent. "Wir konnten uns nicht vom Bund abkoppeln", sagte der Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir im Hessischen Rundfunk.
Die FDP, die bundesweit voraussichtlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, verlor bei der Bundestagswahl in Hessen 11,0 Prozentpunkte und stürzte auf 5,6 Prozent ab. Im Land blieben die Liberalen bei 4,8 Prozent stecken. Die Linke erreichte für den Bund in Hessen 5,8 Prozent (-2,7) und damit das gleiche Ergebnis wie bei der Landtagswahl. (dpa)
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Schwache Bilanz der Hessen-Regierung mit wahlentscheidend
Das Ende von Schwarz-Gelb in Hessen ist nach einer ersten Analyse der Forschungsgruppe Wahlen auch auf die schwache Leistungsbilanz der christlich-liberalen Landesregierung zurückzuführen. "Daneben ist auch ein relativ schwacher CDU-Spitzenkandidat sowie ein gegenüber 2009 deutlich gestärkter SPD-Spitzenkandidat maßgeblich für das Ergebnis verantwortlich", berichteten die Wahlforscher am Sonntag. Bei der Stimmabgabe hätten diesmal außerdem bundespolitische Aspekte eine wichtigere Rolle gespielt als bei der vorherigen Landtagswahl.
Auf einer Skala von plus fünf bis minus fünf bewerteten die Wähler den Angaben zufolge die gemeinsame Arbeit der schwarz-gelben Landesregierung lediglich mit der Note plus 0,6. Dabei schneide die FDP mit minus 0,6 wesentlich schlechter ab als die CDU mit plus 0,9. Die Oppositionsarbeit der SPD werde mit 0,9 so gut eingestuft wie die Regierungsarbeit der Christdemokraten.
Verglichen mit anderen Länder-Regierungschefs habe Hessens CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier nur mäßige Imagewerte, hieß es in der Wahlanalyse. "Ganz ähnlich wie sein Amtsvorgänger Roland Koch polarisiert auch Bouffier, wenngleich etwas weniger stark." Bei der Frage nach dem gewünschten Ministerpräsidenten liegen Bouffier und sein SPD-Herausforderer Thorsten Schäfer-Gümbel fast gleichauf.
Wegen der zeitgleich stattfindenden Bundestagswahl standen für viele Wähler in Hessen bundespolitische Aspekte diesmal im Vordergrund. In der Woche vor der Wahl gaben 40 Prozent an, dass die Bundespolitik diesmal wichtiger sei für ihre Entscheidung als die Landespolitik (Landtagswahl 2009: 28 Prozent). Dennoch war für 57 Prozent die Landespolitik ausschlaggebend (65 Prozent).
Sowohl CDU als auch SPD schneiden laut Analyse der Forschungsgruppe Wahlen bei den Wählern über 60 Jahre am besten ab. Die CDU kommt hier auf 47 Prozent, die SPD auf 36 Prozent. Die Grünen verlieren demnach in allen Altersgruppen. "Die FDP erreicht nur noch bei den 30- bis 44-Jährigen sowie bei den Wählern ab 60 Jahren fünf Prozent und verliert in allen Altersgruppen deutlich." Die Linke komme in allen Altersgruppen unter 60 Jahren über fünf Prozent.
Vom Notnagel zum Hoffnungsträger
Schäfer-Gümbel (43) galt nach dem Debakel um die gescheiterte Regierungsbildung seiner Vorgängerin Andrea Ypsilanti 2008 zunächst eher als Notnagel denn als Hoffnungsträger. Er reifte jedoch zu einem selbstbewussten Fraktionschef, der die zerstrittenen Parteiflügel nach dem tiefen Fall einte und die SPD wieder aufrichtete.
Ypsilanti war 2008 mit dem Versuch gescheitert, sich mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Vier Abweichler ließen die Wahl damals platzen. Daraufhin stürzte die Partei bei der vorgezogenen Landtagswahl 2009 in ihrer einstigen Hochburg auf ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis (23,7 Prozent) ab.
Bouffier (61) - viele Jahre Innenminister in Hessen - war 2010 als Nachfolger Roland Kochs zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Der CDU-Bundesvize legte sich im eher müden Wahlkampf klar auf ein schwarz-gelbes Bündnis fest und schloss nach einigem Hin und Her kurz vor der Wahl auch eine Koalition mit AfD aus. Er setzte auf die gute wirtschaftliche Lage Hessens und die Popularität von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Der FDP, die vor einer Woche in Bayern aus dem Parlament flog und nun wohl aus dem Bundestag, war eine Zitterpartie um den Einzug in den hessischen Landtag vorhergesagt worden. Bouffier verlangte von seinem Widersacher im Wahlkampf Schäfer-Gümbel vergeblich ein "Ehrenwort", nicht mit der Linken zu koalieren.
4,4 Millionen Wahlberechtigte in Hessen
In Umfragen vor der Landtagswahl, die parallel zur Bundestagswahl stattfand, hatte es lange Zeit nach einer rot-grünen beziehungsweise rot-rot-grünen Mehrheit ausgesehen. Schwarz-Gelb hatte in den letzten Wochen jedoch trotz FDP-Problemen aufgeholt und das Rennen wieder spannend gemacht.
Wahlberechtigt waren 4,4 Millionen Hessen. Der alte Landtag wird auf jeden Fall noch bis Mitte Januar 2014 im Amt bleiben. Erst dann endet die Legislaturperiode.
CDU-Fraktionschef sieht Führungsauftrag für Bouffier
Der CDU-Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag, Christean Wagner, sieht im Ausgang der Landtagswahl einen klaren Auftrag an seine Partei. Die Union sei eindeutig stärkste Kraft im Land, "das ist ein klarer Auftrag für Volker Bouffier", sagte Wagner nach der Veröffentlichung der Prognose im Hessischen Rundfunk. Einen Auftrag für Rot-Grün gebe es nicht.
Der Grünen-Landtagsabgeordnete Kai Klose ist unzufrieden mit dem Ergebnis seiner Partei bei der Landtagswahl in Hessen. "Es ist nicht das, was wir uns vorgestellt haben", sagte der Grünen-Wahlkampfmanager am Sonntag in Wiesbaden. "Wir haben aber auch alles andere als Rückenwind aus Berlin bekommen." Er glaube, es werde ein langer Abend. Es sei bei der FDP knapp, es sei bei den Linken knapp. Es könne in jede Richtung ausgehen.
Nach dem Abschneiden als stärkste Partei bei der Landtagswahl in Hessen reklamiert die CDU die Regierungsbildung für sich. "Ich schließe daraus, dass wir einen klaren Regierungsauftrag haben", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, Holger Bellino, am Sonntag in Wiesbaden. Bellino äußerte die Hoffnung, dass die FDP doch noch den Sprung in den Landtag schafft.
Katastrophen-Stimmung bei der FDP in Hessen
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Die SPD-Landtagsabgeordnete Nancy Faeser freut sich über den starken Gewinn ihrer Partei. "Wir sind wieder zurück auf der politischen Bühne", sagte die innenpolitische Sprecherin ihrer Partei nach der Prognose im hr-fernsehen. Danach hat die SPD um 7,3 Prozentpunkte auf 31,0 Prozent zugelegt. Schwarz-Gelb sei eindeutig abgewählt, betonte Faeser. "Hessische Verhältnisse" seien bewältigbar. Die SPD werde das Wählervotum mit großem Respekt entgegennehmen.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Landtagsfraktion in Hessen, Mathias Wagner, hat sich vom Abschneiden seiner Partei bei der Landtagswahl enttäuscht gezeigt. "Wir hätten gern mehr zu einem Regierungswechsel beigetragen", sagte er am Sonntag im hr-Fernsehen nach Veröffentlichung der Prognose. Danach liegen die Grünen bei 10,5 Prozent.
Hessens Wirtschaftsminister Florian Rentsch (FDP) hat das Abschneiden seiner Partei bei der Landtagswahl als katastrophal bezeichnet. "Wir sind tief enttäuscht", sagte er am Sonntag nach der Veröffentlichung der Prognose im Hessischen Rundfunk. Danach ist ein Einzug der FDP in den Landtag ungewiss. Das Ergebnis spiegle nicht das wider, was er bei den Wahlkampfveranstaltungen der Partei mitbekommen hätte, sagte er. Nach den Prognosen scheitert die FDP mit 4,8 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde.
Die hessische Kultusministerin Nicola Beer (FDP) hat das schlechte Abschneiden ihrer Partei bei der Landtagswahl vor allem auf eine falsche Kommunikation zurückgeführt. "Wir haben es nicht geschafft, unsere Erfolge auch ausreichend zu vermitteln", sagte sie am Sonntag im Hessischen Rundfunk. Man müsse nun prüfen, wie das Marketing verbessert werden könne. (dpa)
Früherer hessischer Ministerpräsident Wallmann gestorben
Der frühere hessische Ministerpräsident Walter Wallmann ist tot. Der CDU-Politiker starb am Samstagabend im Alter von 81 Jahren nach langer schwerer Krankheit in einer Frankfurter Klinik, wie der "Wiesbadener Kurier" und das "Wiesbadener Tagblatt" (Montagsausgabe) am Sonntag unter Berufung auf die Familie Wallmanns berichteten.
Wallmann stand von 1987 bis 1991 an der Spitze einer Koalition mit der FDP. Er war der erste christdemokratische Ministerpräsident Hessens. Zuvor war der CDU-Politiker von 1977 bis 1986 Frankfurter Oberbürgermeister und bis zu seiner Wahl zum hessischen Regierungschef Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Kabinett Helmut Kohls (CDU). (afp)
Wahlpanne in Kassel - ungültige Erststimmen
In einem Wahlbezirk in Kassel sind rund 300 falsche Wahlzettel für die Landtagswahl ausgefüllt worden. Dies bestätigte am Sonntag Hans-Jochem Weikert von der Stadt Kassel. Statt für den Wahlbezirk 4 kreuzten 300 Wahlberechtigte Wahlscheine für den Bezirk 3 an. Damit sind dem Wahlgesetz zufolge die Erststimmen ungültig, die Zweitstimmen aber zählen. "Dies könnte die Wahl entscheiden", sagte Weikert dem Hessischen Rundfunk. (dpa)