Berlin. Die Regierung gibt sich über das Ausmaß der US-Spionage überrascht, die Opposition hält das für unglaubwürdig. SPD, Grüne und Linke äußern den Verdacht, die Bundesregierung habe von der ausufernden Überwachung gewusst: Der Wahlkampf hat ein weiteres Thema.
Nach den neuen Enthüllungen über die US-Datenspionage gegen Deutschland und andere EU-Länder macht die Opposition jetzt Druck auf die Bundesregierung: SPD, Grüne und Linke äußern den Verdacht, die Bundesregierung habe von der ausufernden Überwachung gewusst – oder sich nicht genügend um die Datensicherheit der Bürger gekümmert.
Den Anfang machte SPD-Chef Sigmar Gabriel, der Angela Merkel vorwarf, die Ausspähprogramme der USA und Großbritanniens „dem Grunde nach“ gekannt zu haben. Merkel ließ das als „zynisch“ zurückweisen, die Unionsfraktion nannte Gabriels Attacke „unterste Schublade“. Doch die Opposition legt nach, wohl auch aus Wahlkampfgründen. Auf Antrag der SPD-Fraktion kommt heute, am Mittwoch, das geheim tagende Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags zusammen, um zu klären, was Merkel und die Geheimdienste wussten.
Auch Ronald Pofalla geladen
Geladen ist neben den Chefs der Nachrichtendienste auch Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU). „Es geht nicht nur um mögliche Mitwisserschaft, sondern auch um Merkels politische Verantwortung, warum sie Cyberangriffe von sogenannten Freunden nicht auf dem Schirm hatte“, sagt der Grüne Volker Beck. Der SPD-Innenpolitiker Thomas Oppermann meint: „Entweder war Merkel ahnungslos, dann ist sie nicht in der Lage, die Daten der deutschen Bürger vor der Ausspähung befreundeter Staaten zu schützen. Oder sie wusste von der Totalüberwachung und hat das Ausspähen billigend in Kauf genommen.“
Eine Mitwisserschaft hat die Regierung vehement bestritten. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) versicherte gestern, er habe keine Hinweise darauf, dass US-Geheimdienste deutsche Botschaften, Internetknoten oder gar die Bundesregierung ausgespäht hätten. Tatsächlich ist es kaum vorstellbar, dass die Regierung das Ausmaß der US-Spionage – weit jenseits der Terrorabwehr – kannte. Von der neuen Eskalation der Datenaffäre war die Regierung offensichtlich überrascht.
Kannte der BND nicht einmal das Spähprogramm „Prism“?
Aber war sie ahnungslos? Offiziell kannte der Bundesnachrichtendienst (BND) und damit die Regierung nicht einmal das US-Spähprogramm „Prism“ – der BND bestreitet auch, etwas Vergleichbares zu betreiben. SPD-Innenpolitiker Michael Hartmann fragt sich: „Wollten die Dienste nichts wissen, haben sie weggeschaut?“
Schon möglich. Dass die deutschen Sicherheitsbehörden von Erkenntnissen des US-Dienstes NSA profitierten, ist ja offenkundig. Es gibt sogar Hinweise auf geheime Abkommen von Deutschland und andere EU-Ländern mit den USA zum Abgreifen und Verwerten sensibler Daten. Allerdings: Ganz neu wäre die amerikanische Spionagepraxis nicht. Das „Abhören von Millionen Deutschen“ durch amerikanische Dienste sei „eine langjährige Praxis“, möglicherweise werde die Kanzlerin deshalb gar nicht damit konfrontiert, sagte der Geheimdienstforscher Erich Schmidt-Eenboom gestern im Deutschlandfunk. In den 90er Jahren etwa sorgte das amerikanische Spionageprogramm Echolon für derart viel Aufsehen, dass die USA eine Abhörstation in Bad Aibling schlossen.
Aber das war die Ausnahme. Ansonsten galt wohl schon früher, was SPD-Innenexperte Oppermann nun diagnostiziert: Weder der BND noch die Bundesregierung seien wohl über das Ausmaß der Überwachungstätigkeit informiert, sagt Oppermann. „Es interessiert sie nicht.“