Dortmund. . Die SPD feiert ihr 150-jähriges Bestehen. In die Festlaune mischt sich im Revier auch Unbehagen: Die Partei vergreist, die „Kümmerer“ werden weniger. Zu Feiern bleibt da vielleicht die zeitlose Grundidee: Solidarität und Gerechtigkeit. Ein Stimmungsbild aus Dortmund-Wickede.

Am Ende eines langen Gesprächs über die SPD geht Dirk Sanke dieser Satz über die Lippen: „Wir sind hier seit 1901 die führende politische Kraft“, sagt der Vorsitzende der SPD Dortmund-Wickede. Ein stolzer Satz ist das. Weil ihn kein CDU-Mitglied, kein Liberaler und kein Grüner sagen könnte. Wer es genau nimmt, mag an die zwölf Jahre NS-Diktatur dazwischen erinnern. Aber das war ja eine Zwangs-Unterbrechung.

150 Jahre feiert die SPD. Jene Partei, die in Umfragen weit entfernt scheint von Kanzlerschaft und Regierungsbank. Was gibt es da zu feiern? Vielleicht eine zeitlose Grundidee: Solidarität und Gerechtigkeit.

„Wir sind Kümmerer“, sagen die Mitglieder im Ortsverein

Das finden Dirk Sanke (49), Anna Spaenhoff (24), Rolf Marquardt (82) und Dieter Grawer (75). Zusammen sind sie auch schon fast anderthalb Jahrhunderte in der Partei. Anna Spaenhoff erst seit drei Jahren, Rolf Marquardt seit 60. Ihr Ortsverein ist einer der größten (230 Mitglieder) und ältesten (seit 1901) in Dortmund.

Wickede hat einen Ministerpräsidenten hervorgebracht: Fritz Steinhoff, und einen Dortmunder Bürgermeister: Willi Spaenhoff. Das war der Opa von Anna, und die ist heute stellvertretende Juso-Vorsitzende in Dortmund. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Die SPD hat diesem Ort über Generationen einen Stempel aufgedrückt. „Wir sind die Kümmerer. Wir sind wie Familie“, sagen sie im Ortsverein. Das klingt wie „Mia san mia“ auf Westfälisch.

Auf den ersten Blick ist die SPD-Welt in ihrer „Herzkammer“ Dortmund heile. Sie regieren hier, trotz Haushaltsskandal und Wahlwiederholung. In Wickede fuhr die SPD bei der letzten Kommunalwahl 56 Prozent ein. Früher hieß es, die Leute würden sogar einen Laternenmast wählen, wäre er denn rot angestrichen. Das ist die Oberfläche. Aber darunter stecken Risse. „Wir vergreisen“, fürchtet Dieter Grawer, der Vorsitzende der Wickeder „SPD-Arbeitsgemeinschaft 60 plus“. Früher war die AG ein Angebot für die Gruppe der Senioren, heute eines für die große Mehrheit.

Die Neuen engagieren sich nicht genügend

„Wir könnten eine AG 70 plus gründen“, erzählt Grawer. Denn im Schnitt sind die SPD-Mitglieder in Dortmund 65. Der Ortsverein Wickede bestand zwischen 1977 und 1994 aus zwei Teilen (West und Ost) und hatte mal doppelt und dreimal so viele Mitstreiter. „Es kommen ja noch junge Leute zu uns“, versichert Anna Spaenhoff. „Aber die wenigsten engagieren sich aktiv.“ Dabei bräuchten sie dringend neue „Kümmerer“. Die alten sind schon ein bisschen müde.

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Eine Anstecknadel liegt vor Anna Spaenhoff auf dem Tisch: „Willy wählen“ – ein sozialdemokratischer Klassiker. Sie liegt da nicht ganz zufällig. Denn Willy Brandt ist für Sozialdemokraten ungefähr so wie Elvis in der Popmusik: unvergessen und irgendwie immer noch da. Jeder spätere Vorsitzende muss sich mit ihm messen. Meist vergeblich.

Willy war natürlich mal in Wickede, 1965, bevor er Kanzler war. „Wir haben selbstgebastelte Plakate vor die katholische Kirche gehängt. Sehr zum Ärger unserer katholischen Freunde“, erinnert sich Rolf Marquardt, der Ehrenvorsitzende. Der Prälat fand es furchtbar. Katholiken und Sozialdemokraten passten damals nicht zusammen. „National denkende Bauern und Bergleute auch nicht“, sagt Marquardt. Er kennt diese Konflikte. Und er war bei den Arbeitern.

Bis heute wird Willy Brandt verehrt 

„Willy Brandt war Herz und Seele dieser Partei“, sagt Dirk Sanke. Seine Genossen und er respektieren Sigmar Gabriel, bewundern Helmut Schmidt, lächeln sogar beim Namen Gerhard Schröder. Aber keiner der Herren, auch kein Steinbrück und Steinmeier, wird von ihnen so sehr verehrt wie Willy Brandt. Hier ist es Loyalität, dort ist es Liebe. Übrigens: Teile der Revier-SPD haben sich in Hannelore Kraft verliebt: „Sie ist in unseren Herzen: freundlich, mitreißend, sie nimmt die Menschen mit“, findet Sanke. Und natürlich: „Sie war schon mal in Wickede.“ Wie der Willy.

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Es gibt ein altes Rezept für politischen Erfolg, davon sind sie in diesem Ortsverein überzeugt: Immer wieder mit den Leuten reden, raus auf die Straße gehen, ins Einkaufszentrum, in die LEG-Siedlung. Auch mit jenen plaudern, die Bratwurst lieber mögen als Carpaccio mit Pinienkernen. „Wir haben uns immer um die Kleinigkeiten gekümmert. Das funktioniert“, meint Dirk Sanke. Es sind, so glauben sie in Wickede, die Kleinigkeiten, die heute im Politikbetrieb unter die Räder kommen. In einer Zeit, in der alle Europa retten wollen, aber wenige den Zebrastreifen nebenan.

150 Kuchenstücke zum Jubiläum am Donnerstag

Manchmal lädt die Politik den Kümmerern im Ortsverein Wackersteine auf die Schultern. „Was meinen Sie, wie viel Spaß es macht, mit diesem besch.... Nichtraucherschutzgesetz auf die Straße zu gehen und mit den Leuten zu reden?“, wettert Dirk Sanke. „Hier soll es deshalb keine Dorffeste mehr geben. Mensch, das geht doch an der Lebenswirklichkeit total vorbei.“ Die dringendste Botschaft der Basis an den Überbau ist: Bleibt bloß auf dem Teppich.

Am Donnerstag, zum Jubiläum, gibt es Kuchen in Wickede. 150 Stücke wird der Ortsverein auf dem Dorfplatz verteilen, mit der Bundestags-Kandidatin Sabine Poschmann. Es ist das alte, schlichte Politik-Rezept. Bewährt seit 1901.