Hagen/Sundern/Berlin. 150 Jahre SPD: Franz Müntefering über den schweren Stand der SPD im Sauerland und die Chancen für einen Regierungswechsel. Im Herbst verlässt der 73-Jährige den Bundestag.

Die SPD besteht 150 Jahre. Die Stimme der Sozialdemokraten aus dem Sauerland ist Franz Müntefering. Unsere Zeitung hat mit dem früheren Vize-Kanzler und SPD-Parteivorsitzenden gesprochen.

Warum sind Sie 1966, mit 26 Jahren, Mitglied der SPD geworden?

Franz Müntefering: Ich bin in einem unpolitischen Elternhaus groß geworden. Bis zum 18. Lebensjahr habe ich Fußball im Kopf gehabt und selbst gespielt, war aber auch in Sundern in der Kirchengemeinde als Messdiener und Gruppenleiter in der katholischen Jugend aktiv. Im Alter von 20 bis 25 habe ich mich politisch umgesehen und hatte das Gefühl, dass die Zeit für die Sozialdemokratie spricht. Willy Brandt hat eine Rolle gespielt und die Demokratie-Bewegung, die damals bei den jungen Leuten ankam – nicht nur an den Universitäten, sondern auch im Sauerland.

Wie hat Ihre Familie, wir haben die Freunde reagiert?

Franz Müntefering: Meine Eltern waren überrascht. Sie lebten in der Tradition der Zentrums-Wähler, fühlten sich der katholischen Arbeitnehmerschaft verbunden. Mein Vater war überzeugt, Sozialdemokraten seien evangelische Flüchtlinge. Das war seine Prägung. Ein Freund hat mich gefragt, warum bist du nicht zur CDU gekommen, zu uns. Ich habe ihm gesagt, mit all der Arroganz, zu der man in dem Alter fähig ist: Weil ich euch kenne. Meine Entscheidung für die Sozialdemokratie war richtig.

Erinnerung an Ärger mit Passanten

Von 1969 bis 1979 saßen Sie im Rat der Stadt Sundern. Konnten Sie die Sympathie der Wähler zugunsten der SPD fördern?

Franz Müntefering: Als meine politischen Freunde und ich dazukamen - 1965, 1966 - hatten wir bei den Kommunalwahlen noch zehn bis fünfzehn Prozent weniger als dann 1969. 1969 war ein sehr gutes Jahr. Wir sind mit vielen jungen Leuten in den Rat eingezogen. Bundesweit, nicht nur im Sauerland, vollzog sich in diesen Jahren ein politischer Stimmungswandel. Das zeigte sich auch bei den Zweitstimmen der Landtags- und Bundestagswahlen. Mit Johannes Rau habe ich oft darüber gesprochen. Wenn die SPD in den ländlichen Räumen nicht so hinzugewonnen hätte, wäre sie in Nordrhein-Westfalen nie so lange Regierungspartei geblieben.

Ist die SPD bei der politischen Arbeit in Sundern behindert worden?

Franz Müntefering: Es hat manchmal Ärger mit Passanten gegeben, wenn wir Parteimaterial verteilt haben. In der Gaststätte „Zur Eule“ und im Café Lange sind wir immer korrekt behandelt worden. In den 1950er und 1960er Jahren gab es die Bischofsworte, die von den Kanzeln verlesen wurden, in denen offen geworben wurde, Parteien zu wählen, die das Christliche in ihrem Namen haben. Das hat sich irgendwann für die eher als kontraproduktiv erwiesen. Die Leute waren zu selbstbewusst, als dass sie sich irgendetwas sagen lassen wollten. Immer weniger hörten da zu.

Warum ist es für die SPD so schwer, im Sauerland Fuß zu fassen?

Franz Müntefering: Das ist eine alte Geschichte. Beim Entstehen vor 150 Jahren forderte die SPD freies und gleiches Wahlrecht für Frauen und Männer, Demokratie. Die Kirchen und die Herrschenden standen dem skeptisch gegenüber. Aus ihrer Sicht war das Unbotmäßigkeit und Ungehorsam. In der Demokratie steckt ja die Idee, alle Menschen sind gleichberechtigt, gleich viel wert, davon hielten die Genannten nicht viel. Auch gab es im Sauerland immer eine enge Zugehörigkeit der Menschen zur katholischen Kirche, wobei nicht nur der Glaube eine Rolle spielte. Man hörte auch auf das, was als politische Botschaft verkündet wurde. Das hat die politische Landschaft lange geprägt. Zudem gab es wenig Großindustrie, relativ schwache Gewerkschaften und Betriebsräte. Das hat sich erst in den 1970er Jahren verändert, war aber bei den kleinen Betrieben nicht so ausgeprägt wie bei den großen Unternehmen in der Stahl- und Kohleindustrie.

"Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt"

Sie waren zweimal SPD-Parteivorsitzender, 2004/2005 und 2008/2009. Was muss ein Parteivorsitzender mit ins Amt bringen?

Franz Müntefering: Man muss in der Lage sein, die unterschiedlichen Meinungen, die es in einer Partei gibt, zusammenzuführen und so Kompromisse zu finden, die von vielen Mitgliedern und Wählern getragen werden können. Man muss sagen, wohin die Reise gehen soll, sagen, welchen Herausforderungen sich die Gesellschaft stellen muss. Standpunkte zu sammeln und auf Friede, Freude, Eierkuchen zu machen, das genügt nicht. Ich habe zu sammeln und zu führen versucht, auch wenn es nicht immer die Zustimmung aller getroffen hat. In 150 Jahren hat die SPD gelernt, trefflich über den richtigen Weg zu streiten. Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt.

Apropos Reibung. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ist mit seinem Vorstoß, bundesweit ein Tempo-Limit von 120 km/h auf Autobahnen einzuführen, ausgebremst worden. Weiß die SPD, was sie will?

Franz Müntefering: Ja, dafür gibt es ja Partei- oder Regierungsprogramme. Im Regierungsprogramm von Peer Steinbrück steht von diesen 120 km/h nichts. Das hat Steinbrück schnell klargestellt. Ein Parteivorsitzender ist nicht die wichtigste Figur im politischen Geschäft. Als Partei muss man nach Artikel 21 des Grundgesetzes wissen: Man wirkt mit bei der Meinungsbildung, aber Wählerinnen und Wähler und Abgeordnete stimmen ab und entscheiden. Der Kanzlerkandidat ist zuständig für 81 Millionen, der Parteivorsitzende für 500 000 Mitglieder. Mein höchstes Amt für mich war insofern immer, gewählter Abgeordneter zu sein. Nichts ist darüber.

Glauben Sie an einen Regierungswechsel?

Franz Müntefering: Ich halte es für unentschieden. Ich denke, dass es Schwarz-Gelb nicht mehr geben wird. Daraus ergeben sich viele Fragen. Wer wird wie groß? Es kommt auch auf die kleinen Parteien an. Es wird eine Tendenz geben weg aus den Zersplitterungen hin zu den Volksparteien. Das hängt von der Wahlbeteiligung ab, wo die paar Prozente liegen, auf die es entscheidend ankommt.