Rhein-Ruhr. . Es ist eine Scheinüberwachung. Mit unzureichenden Methoden prüft das Landesumweltamt (Lanuv) die Giftbelastung von Gewässern in NRW. Das ergaben Recherchen der Funke-Mediengruppe. Selbst eine 1000-fache Überschreitung der Grenzwerte würde bei einigen Giften nicht auffallen.
Das Landesumweltamt (Lanuv) untersucht seit Jahren mit untauglichen Mitteln potenzielle Gefahren für Menschen und Natur. Gewässeruntersuchungen erfolgen mit Verfahren, die nur sehr extreme Vergiftungen anzeigen. Überschreitungen geltender Grenzwerte können häufig nicht erkannt werden. Das dokumentieren Messergebnisse, die dieser Zeitung vorliegen. Sie offenbaren eine riskante Scheinüberwachung der Behörde.
Es gibt Tage, an denen nimmt es das Lanuv ganz genau. Dann wird das geeignete Messverfahren gewählt und mit hochsensibel eingestelltem Gerät geht es im Labor tief hinab, in den Tausendstel-Mikrogramm-Bereich, dorthin, wo die Grenzwerte von Substanzen liegen, die selbst in nichtigsten Mengen noch Leben gefährden. Es gibt aber auch andere Tage. Dann geht die Behörde nicht an die erforderlichen Grenzwerte heran, um Schadstoffe aufzuspüren. An solchen Tagen liegt die Messgrenze weit über dem Limit. Es ist eine Art Freischwimmerschein für Gifte, die so niemals entdeckt werden können.
Lanuv misst meist nur bis zur 0,1-Mikrogramm-Grenze
In der Regel misst das Lanuv nur bis zu einer Grenze von 0,1 Mikrogramm pro Liter hinab. Alles was darunter liegt, wird als unbedenklich eingestuft. Es gibt aber deutlich strengere Grenzwerte. Der des krebserregenden Giftes Dichlorvos liegt bei 0,0006 Mikrogramm. Die 0,1-Messschwelle würde nicht reichen, um eine 160-fache Dichlorvos-Überschreitung zu erkennen. Der Giftausschlag bliebe unsichtbar; in der Lanuv-Statistik sähe es so aus, als sei alles in Ordnung.
Diese Zeitung fand allein bei der Auswertung von 20 Substanzen rund 85 000 Proben, die hohe Giftmengen enthalten könnten – niemand würde je davon erfahren.
„Das ist ein Skandal“, sagt eine Chemikerin eines international tätigen Instituts für Wasserforschung. „Das muss die Öffentlichkeit erfahren.“ Namentlich zitiert werden möchte sie damit nicht. Die Wasser-Szene ist gut vernetzt; man trifft sich auf Tagungen, jeder bekommt Aufträge von jedem, das soll so bleiben.
Offizielle Grenzwertüberschreitungen sind selten
Vordergründig scheint alles gut. Offiziell notierte Grenzwertüberschreitungen in NRW-Gewässern sind selten. Von 178 giftigen Bioziden, die das Lanuv seit 1992 fand, werden wenige Proben beanstandet. Unter Tausenden von Messdaten pro Stoff erscheinen mal 0,5 Prozent, mal ein Prozent, selten mehr als zwei im roten Bereich – keine schlechte Quote. Erst beim Vergleich der Lanuv-Kriterien mit geltenden Grenzwerten fällt auf: 10fache, 100-fache, selbst 1000-fache Überschreitungen sind möglich, ohne dass sie identifiziert würden.
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„Bei dieser Gewässerbeobachtung kann keine Aussage über die Einhaltung der Grenzwerte getätigt werden“, sagt Heinz Singer, Analytiker am renommierten Schweizer Wasserforschungsinstitut Eawag.
Giftspitzen in der Bigge-Talsperre
Ausgerechnet die gefährlichsten Stoffe haben die größten Entfaltungsmöglichkeiten. Mevinphos zum Beispiel. Das Gift wird nicht nur von Mördern und Selbstmördern als todsicheres Mittel benutzt. Es ist auch in die höchste Wassergefährdungsklasse eingestuft. Und es schwimmt in NRW herum. Die letzte Mevinphos-Giftspitze datiert vom 22. Mai 2007: eine 500-fache Überschreitung in der Bigge-Talsperre. Enorme Ausschläge dort sind kein Einzelfall. 2007 sind drei 500-fache Grenzwertüberschreitung in der Talsperre aktenkundig.
Ob es mehr solcher Giftschübe gab oder nicht, ist nicht nachvollziehbar. In den Lanuv-Tabellen erscheinen 97,7 Prozent der Mevinphos-Proben als unbedenklich. Andererseits: Nur 94 von 4500 Proben sind sauber. Der Rest ist eine Grauzone, mit giftgrünem Potenzial. Messtechnisch unbemerkt, können bis zu 1000-fach überhöhte Mengen des Giftes unter anderem durch Lenne, Volme, Möhne, Sieg, Wupper, Schwelme, Gelpe, Repe, Olpe, Bigge, Lippe, Ahse, Stever, Schwalm, Niers, Eder und Issel geflossen sein. 200-fache Grenzwertüberschreitungen waren 2012 in Rhein, Ruhr, Volme, Möhne, Erft, Eder, Lippe, Lenne, Ems, Sieg und Wupper möglich. Und bei sieben Proben aus der Emscher-Mündung, gezogen zwischen Januar und November 2012, wären bis zu 400-fach erhöhte Giftwerte nicht aufgefallen.
Erhöhte TBT-Werte in der Ruhr
Mevinphos ist kein Einzelfall. Auch dem hochgradig toxischen Tributylzinn (TBT) geht das Lanuv nicht gebührend nach. Das Biozid tötet Lebewesen: Algen auf Schiffsrümpfen, Pilze auf Häuserfassaden. Das Umweltbundesamt zählt TBT zu den gefährlichsten Giften überhaupt. Beim Menschen führe es „zu vermehrten Infektionen und zu einem hohen Tumor- bzw. Krebsrisiko“. Bei Wasserorganismen zerstören schon „Konzentrationen von wenigen Nanogramm pro Liter“ das Hormonsystem. Deshalb ist TBT seit 2008 verboten.
In NRW-Gewässern kommt es trotzdem vor, regelmäßig, seit Jahren, in Konzentrationen weit oberhalb der Grenzwerte. Seit 2006 wurde das gesetzliche Limit rund 50 Mal überschritten – mal um das 100-fache, wie 2011 im Lippe-Zufluss Seseke, mal um das 200-fache, wie 2011 im Dortmunder Süggelbach, dann wieder nur um das 50-fache, wie 2008 sechsmal in Folge in der Ruhr in Mülheim-Kahlenberg.
Was tat das Lanuv? Es nutzte fortan Messverfahren, die weit davon entfernt waren, dem Gift bis zum Grenzwert zu folgen. In der Folge gibt es seit 2009 keine erhöhten TBT-Werte mehr in NRW: 409 Wasserproben – alle unbedenklich.
Zumindest in der Lanuv-Statistik.