Essen. Staatsanwälte verfolgen die letzten noch lebenden NS-Verbrecher. Es geht um insgesamt 50 Fälle. Vier Spuren führen nach NRW, auch an den Niederrhein. Die Justiz ermittelt gegen Männer, die in Hitlers größtem Vernichtungslager Auschwitz Dienst getan haben sollen.

Staatsanwälte in Ludwigsburg treiben die Ermittlungen ge­gen eine Gruppe der letzten noch lebenden KZ-Schergen voran. Die Fahndung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hat in vier der fünfzig Fälle nach Nordrhein-Westfalen und auch an den Niederrhein geführt. Je neun Verdächtige leben in Bayern und Baden-Württemberg.

Nach Information unserer Zeitung wohnt einer der um die 90 Jahre alten Männer im Kreis Wesel, die anderen in den Kreisen Gütersloh, Lippe und Rhein-Sieg. Sie haben als Aufseher in Hitlers größtem Vernichtungslager Auschwitz Dienst getan und lebten bisher unbehelligt.

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Von Dietmar Seher, Gil Yaron und Christian Kerl

Bestätigen sich die Verdachtsmomente in den nächsten Wochen, wird wohl Andreas Brendel, der Leiter der für NRW zuständigen Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Dortmund, Post aus Ludwigsburg bekommen. Dann muss der Staatsanwalt entscheiden, ob er weiter ermittelt und Vernehmungen einleitet und am Ende Anklage erhebt. Es geht in allen Fällen um den Vorwurf der Beihilfe zum hunderttausendfachen Mord.

Die Zentrale Stelle hat nicht nur Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau im Visier. Der Ludwigsburger Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm hat angekündigt, untersucht würden auch Fälle von noch lebenden Wachleuten aus den anderen Vernichtungslagern: Sobibor, Majdanek, Treblinka und Belzec. Am Ende, glaubt Schrimm, könnten mehr als 100 Personen auf einer Liste von Tatverdächtigen stehen, die zwischen 1942 und 1945 Teil der Tötungsmaschinerie des Dritten Reiches waren.

Selten musste sich das Wachpersonal für Verbrechen verantworten

Bisher haben die Fahndungsbehörden zwar gegen Verantwortliche der Vernichtungslager Ermittlungen und Prozesse geführt, nur sehr selten aber auch gegen Mitglieder des Wachpersonals. Das Ur­teil des Landgerichts München ge­gen den Wachmann John Demjanjuk aus dem Lager Sobibor , das wegen seines Todes vor einer Revisionsverhandlung keine Rechtskraft erlangte, öffnet nach Fahn­derauffassung Chancen, jene zu bestrafen, die nur „dabei waren“.

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Der Dortmunder NS-Ermittler Brendel hat bereits 2010 einen solchen Fall über eine Anklage hinaus fast bis zum Prozessbeginn betrieben. Kurz zuvor starb damals der 89-jährige Angeklagte Samuel Kun­ze aus Bonn, der in den Vernehmungen seine Rolle im Lager Belzec eingeräumt hatte. „Belzec war ausschließlich ein Vernichtungslager. Hier sind 400.000 Juden vergast worden“, sagt Brendel, „wir sind überzeugt: Alle, die vor Ort waren, wussten Bescheid.“

Gibt es ein Risiko für die Anklage?

Gerade deswegen dürften Verfahren ausgerechnet gegen Auschwitz-Wachleute rechtlich nicht ganz ohne Prozessrisiko für die Ankläger sein. Denn anders als Belzec, Treblinka oder Majdanek haben die Nazis Auschwitz in Teilen auch als Arbeitslager und eben nicht nur als Vernichtungslager genutzt. Die Frage wird sich stellen, ob Tatverdächtige in jedem Fall Kenntnis von der Massenvergasung gehabt haben können.

Die Dortmunder Schwerpunktstaatsanwaltschaft ist derzeit mit weiteren Nazi-Verbrechen befasst, so mit dem Wehrmachts-Massaker im französischen Ort Oradour-sur-Glane und mit dem Mordvorwurf im Fall von mehreren hundert Italienern in den Toskana-Ortschaften Civitella und Vallinciole. Ob es hier zur Aklage kommt, ist offen.