Berlin. . Es ist eine große Allianz: Die SPD, Grüne, das Land Rheinland-Pfalz, der Verein „Lebenshilfe“, aber auch der Behindertenbeauftragte Hubert Hüppe (CDU) nehmen Anstoß an der deutschen Rechtspraxis zu Wahlen. Von diesen sind Behinderte, die unter Totalbetreuung stehen, ausgeschlossen.

Ulla Schmidt sitzt seit 1990 im Bundestag, eine ehemalige Ministerin, ein Polit-Profi. Dass einige Behinderte von Wahlen ausgeschlossen werden, davon hatte die Sozialdemokratin nie etwas gehört. Keiner klagte darüber, buchstäblich: Niemand zog nach Karlsruhe. Viele Eltern wunderten sich. Sie beantragten die Betreuung für ihre volljährigen Kinder in allen Bereichen, doch es kam keine Wahlbenachrichtigung. Das sieht das Wahlgesetz vor, Paragraf 13, der etwas aus der Zeit gefallen ist.

Sozialpolitiker machen Druck

Daran nehmen jetzt viele Anstoß: Die Grünen brachten einen Gesetzentwurf ein, das Land Rheinland-Pfalz eine Initiative im Bundesrat. Die SPD will heute im Bundestag eine Initiative ergreifen. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU), ist unzufrieden. Für ihn steht fest, dass Menschen mit Behinderung ausgeschlossen werden, „von denen zumindest einige sehr wohl politisch interessiert sind und auch wählen wollen“, sagte er unserer Zeitung. Hüppe weiter: „Nicht der Mensch muss begründen, warum er wählen kann, sondern der Staat muss massive Gründe vorlegen, warum er ein Grundrecht entzieht. Das ist bei Menschen, die derzeit nicht wählen dürfen, nicht gewährleistet“.

Hüppe ist politisch in einer delikaten Lage. Die Innenpolitiker seiner Partei bremsen. Günter Krings verteidigt die bisherige Praxis. Er setzt ganz anders an. Die Frage sei für ihn, so Krings, „gibt es Einzelfälle, wo Gerichte zu leichtfertig die Betreuung anordnen?“ Aber ihm leuchtet es ein, dass ein Mensch, der nicht selbstständig eine Zeitung kaufen könne, keine Wahlentscheidung treffen soll. Parteifreund Hüppe hält dagegen: „Der entscheidende Faktor ist nicht, ob einer etwa mit Geld umgehen kann. Sonst müsste man ganz anderen Leuten das Wahlrecht entziehen. Die Frage ist, kann er sich eine politische Meinung bilden.“

Un-Konvention als Wende

Noch vor zehn Jahren hätte wohl kaum jemand Krings widersprochen. Es sind die Sozialpolitiker, die Druck machen, Leute wie Schmidt, die neuerdings als Vorsitzende der Vereinigung „Lebenshilfe“ auch als Lobbyistin der Behinderten auftritt.

Den Wendepunkt in der öffentlichen Meinung markiert eine UN-Konvention über die Rechte der Behinderten: Sie sollen nicht mehr vor der „Welt draußen“ geschützt, sondern vielmehr integriert werden. „Es ist eine Frage der Teilhabe“, so Hüppe. Eigentlich hat sich Deutschland in einem nationalen Aktionsplan verpflichtet, die UN-Konvention umzusetzen. Schmidt verweist auf Österreich, Großbritannien und die Niederlande, denn sie alle haben ähnliche Ausschlussregelungen in ihren Wahlgesetzen längst korrigiert.

Jeder 60. Wähler dement

Theoretisch könnte man jeden auf Wahlfähigkeit prüfen, aber da kämen die Parteien in Teufels Küche. „Wen nehmen wir aus, das hätte kein Ende mehr“, weiß Ulla Schmidt, „dann sind demnächst die Demenzkranken dran.“ Wenn die Schätzungen stimmen, ist jeder 60. Wähler dement, fast eine Million Menschen. Und wer in den Altenheimen die Zettel zur Briefwahl ankreuzt – Verwandte, Pfleger? –, das ist auch nicht immer zweifelsfrei klar.