Rom. . Papst Benedikt XVI. hat seinen Rücktritt angekündigt. Es ist erst der zweite freiwillige Rücktritt eines Papstes überhaupt – und ein überraschender Abgang für einen Kirchenführer, dem Kontinuität über alles ging. Ein Porträt.

Als der alte Augustinus spürte, dass er hinfällig wurde, setzte er sich vors Bücherregal und nahm sich sein Lebenswerk noch einmal vor. So vieles hatte er geschrieben in fast drei Jahrzehnten als Priester, als Bischof, als weltweit geachteter und gefürchteter Spitzentheologe; so viele Ketzer, einen nach dem anderen, hatte Augustinus in den Boden gerammt. Und immer wenn er glaubte, etwas verschnaufen zu können, bekam der „Packesel Gottes“, als der Augustinus sich selbst sah, den nächsten Zentnersack auf den Rücken gewuchtet.

Heute, knapp 1600 Jahre später, blickt ein anderer auf sein theologisches Lebenswerk zurück. Einer, der sagt, Augustinus sei ihm „immer ein großer Freund und Lehrer geblieben“; einer, der in der Abwehr von Irrlehren gleichfalls eine Lebensaufgabe gefunden hat und der sich wie Augustinus ausdrücklich als „Packesel Gottes“ sieht, der sich nun aber von dem alten Kirchenlehrer absetzt: Denn für Papst Benedikt XVI. war der Zentnersack, den er als Nachfolger Petri zu tragen hatte, zu schwer geworden.

„Vermeide jedweden Bruch“

85 Jahre ist der als Joseph Ratzinger geborene Papst Benedikt XVI. alt. Wenn es ein Wort gibt, das sein Pontifikat zusammenfasst, dann heißt dies „Kontinuität“. Und die Maxime, die Benedikt daraus ableitet, die er mit aller Kraft, beinahe ängstlich verfolgt, sie lautet: „Vermeide jedweden Bruch!“ Und ausgerechnet dieser Papst, dem abrupte Brüche zuwider sind, bricht nun mit der jahrhundertealten Tradition, wonach ein Papst nicht zurücktritt.

Genau so wie Augustinus in einer beständig brüchigen irdischen Welt, bedroht von Goten und Vandalen, die heute zwar anders heißen, nach Benedikts Ansicht aber die Fundamente von Zivilisation und Religion genau so ins Wanken bringen wie die Völkerwanderungsstämme von einst, wollte Benedikt eine andere Kontinuität hüten und verkörpern: jene des katholischen Glaubens und jene der zweitausendjährigen Kirche als solcher.

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1968 floh er vor den Studenten aus Tübingen

Persönlichkeit und Amt durchdringen sich bei Benedikt wechselseitig. Die Bücherregale zum Beispiel, mit denen er sich bis heute im Apostolischen Palast umgibt, sind noch immer dieselben, die Joseph Ratzinger als Theologieprofessor in Tübingen besaß. 1968 ist er von dort förmlich geflohen: Die Studentenunruhen empfand er als gesellschaftlichen Bruch; dem wollte er sich nicht aussetzen. Während sein Theologen-Kollege Hans Küng, der Ratzinger nach Tübingen gerufen hatte, dort auf der Bühne blieb und sich den wilden Disputen mit der Welt stellte, zog Ratzinger ins beschauliche Regensburg.

Jahrzehnte später leitete Benedikt sein Pontifikat mit einer programmatischen Rede über die „Hermeneutik der Kontinuität“ ein. Kardinäle und Theologen schwor er darauf ein, selbst noch die modernen Entwicklungen der Kirchengeschichte als bruchlose Fortführung der Vergangenheit an- und auszulegen. Er tat das in einem Horizont, der nicht mehr vielen Zeitgenossen aufleuchtet, der so kaum mehr mitteilbar ist und sich damit dem Verstehen entzieht.

Die Theologie ist Benedikts Welt, „Vatileaks“ war es nicht

Benedikt wollte zum Beginn seines Pontifikats nicht einfach nur ankündigen, dass er dort weiterzumachen gedachte, wo er mit Johannes Paul II. aufgehört hatte. Einer wie Ratzinger, der mit Augustinus einen „lebendigen, freundschaftlichen Dialog“ führt, bewegt sich in einem anderen Raum – in einem, der ausgefüllt ist mit dem, was die Theologie in 2000 Jahren gedacht und diskutiert hat. Das ist Benedikts Welt. Ihm als Gelehrtem und Papst ist sie ein Reichtum. Doch ausgerechnet dieser Papst, der Intellektuelle auf dem Heiligen Stuhl, musste sich auch mit höchst profanen Problemen herumschlagen, etwa mit der lästigen „Vatileaks“-Affäre um gestohlene Geheimdokumente.

Wie Benedikt sich selbst sieht, das hat er noch vor fast genau einem Jahr angedeutet, als er im Vatikan die damals neuen Kardinäle ernannte. Zu ihnen sagte er seinerzeit: „Betet für mich, dass ich das Steuer der Kirche in milder Festigkeit festhalte.“ Dieser Papst wollte festhalten, was geworden ist, das Kirchenschifflein, das auf den Gewässern der Zeitläufte treibt und „von den Wogen des Relativismus hin- und hergeschlagen wird.“ Nun tritt er vom Steuer des Kirchenschiffs zurück.