Essen. . Ein Jahr nach dem Abzug der US-Soldaten haben die Spannungen stark zugenommen, permanent sterben Menschen durch Anschläge. Der Konflikt zwischen Kurden und der Zentralregierung könnte das Land zerbrechen lassen.
Vor einem Jahr haben die letzten US-Soldaten den Irak verlassen, sieht man von den Truppen ab, die die weltgrößte US-Botschaft in der Hauptstadt Bagdad bewachen. „Wir hinterlassen einen souveränen, stabilen und selbstständigen Irak“, sagte US-Präsident Barack Obama im Dezember vergangenen Jahres vor heimgekehrten Soldaten. Ein Musterbeispiel dafür, wie ein Desaster schön geredet werden kann. Denn tatsächlich ist das Zweistromland alles andere als stabil.
Der Irak im Jahr eins nach dem US-Abzug ist ein Land, das nahezu täglich von Anschlägen erschüttert wird. 4400 Menschen starben 2012 bislang durch Selbstmordattentate und andere Anschläge. Die Infrastruktur – Straßen, Schienen, Stromnetz – ist in einem fürchterlichen Zustand, die Korruption blüht, die öffentliche Verwaltung funktioniert kaum, obwohl sie personell grotesk überbesetzt ist. 3,5 Millionen Köpfe zählt der aufgeblähte Beamtenapparat, bei einer Einwohnerzahl von 34 Millionen.
Keine Spur von Einheit bei der "Regierung der Einheit"
Ministerpräsident Nuri al-Maliki, ein Schiit, ist in Personalunion Regierungschef, Verteidigungs- und Innenminister sowie Minister für die Nationale Sicherheit (die Posten sind alle vakant) und führt seit 2010 eine Regierung der „nationalen Einheit“, die ihrem Namen Hohn spottet: von Einheit keine Spur, im Gegenteil – die konfessionellen und ethnischen Spannungen nehmen beständig zu. Der derzeit brisanteste Konflikt spielt sich im Norden des Landes ab, an der Grenze zu den kurdischen Autonomiegebieten.
Dort stehen sich, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet, seit Monaten zentralirakische und kurdische Truppen gegenüber. Es droht eine bewaffnete Auseinandersetzung. Hintergrund ist ein Gebietsstreit, der sich vor allem um die von verschiedenen Volksgruppen – Kurden, Arabern, Turkmenen – bewohnte Stadt Kirkuk und ihre Erdölfelder dreht.
Die Kurden beanspruchen die Stadt für sich, eine für 2007 zugesagte Volksabstimmung wurde von der Zentralregierung in Bagdad verhindert. „Das hat ein hohes Eskalationsrisiko“, sagt Guido Steinberg, Nahost-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Nachdem gestern der irakische Staatspräsident Dschalal Talabani, ein Kurde, nach einem Schlaganfall ins Koma gefallen ist, fehlt eine wichtige Vermittlerstimme in diesem innerirakischen Konflikt.
Auswirkungen des Kriegs in Syrien
Zudem könnte der Ausgang des Bürgerkriegs in Syrien fatale Auswirkungen auf den Irak haben. Setzen sich dort – und den Anschein hat es – die von Saudi-Arabien unterstützten mehrheitlich sunnitischen Aufständischen durch, ist damit zu rechnen, dass auch ihre Glaubensbrüder im Irak Morgenluft wittern. Unter dem 2003 gestürzten Diktator Saddam Hussein stellten die Sunniten die politische Elite, heute sind sie weitgehend von der Macht ausgeschlossen.
Schon jetzt kritisieren sie den vom saudischen Erzfeind Iran protegierten und immer autoritärer regierenden Ministerpräsidenten al-Maliki scharf; es gibt zudem Gerüchte, dass sich in der sunnitischen Provinz Anbar bereits eine „Freie irakische Armee“ nach dem Vorbild der „Freien syrischen Armee“ formiert, um gegen die Regierung in Bagdad vorzugehen.
Die Einnahmen aus der Erdölförderung versickern
Nicht zuletzt treibt noch immer El Kaida im Irak ihr Unwesen. Die Terrororganisation hat offenbar in den westlichen Wüsten Trainingscamps errichtet und ist trotz ihrer geringen Personalstärke – geschätzt 2500 Mann – in der Lage, verheerende Anschläge durchzuführen, auch dank der Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte. Mosul, eine Millionenstadt im Norden, ist für westliche Ausländer noch heute eine No-Go-Area, weil El Kaida dort präsent ist und eine große Unterstützerszene hat.
Selbst die stete Steigerung der Erdölförderung, dem wichtigsten wirtschaftlichen Standbein des Landes, trägt nicht zur Genesung des Landes bei – die meisten Einnahmen verschwinden in den Taschen der Eliten. Die düstere Prognose des Nahostexperten Steinberg: „Der Irak wird in den nächsten Jahren nicht stabil werden.“ Es bestehe sogar die „Gefahr, dass das Land auseinanderbricht“.