Kairo. . Lange schon demonstrierten nicht mehr so viele empörte Bürger auf dem Tahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo. Ägypten versinkt in Aufruhr und Chaos. Der neue Präsident Mursi hat den Bogen überspannt, indem er sich selbst zu viel Macht verschaffte. Eine Analyse.

Ägyptens Machtkampf zerreißt das Land. Parteizentralen der Muslimbrüder brennen. In allen Provinzen sind die Menschen auf der Straße. Lange schon demonstrierten nicht mehr so viele empörte Bürger auf dem Tahrir-Platz in der Hauptstadt Kairo. Und immer mehr Ägypter fragen sich knapp zwei Jahre nach ihrer Revolution, wo das alles noch enden soll.

In Kairos Machtpoker spielt jeder mit gezinkten Karten. Präsident Mohammed Mursi katapultierte sich per Dekretserie zum Diktator auf Zeit. Das Verfassungsgericht, vollgestopft mit alten Mubarak-Günstlingen, brüstet sich als politische Widerstandszentrale gegen die Muslimbrüder. Nach dem Parlament im Juni wollten die höchsten Richter jetzt auch Verfassungsgebende Versammlung und Oberhaus zertrümmern – die beiden anderen per Abstimmung legitimierten Volksvertretungen. Gleichzeitig sollten dem demokratisch gewählten Staatschef die anrüchigen Selbstermächtigungsdekrete des Obersten Militärrates vom Juni 2012 erneut vor die Nase gesetzt werden.

Der Präsident hat den Bogen überspannt

Ägypten wäre wieder bei Stunde Null. Alle post-revolutionären Wahlen wären nichtig, der Präsident erneut zu einer Marionette der Armee reduziert und der Weg der Nation am Nil zu demokratisch legitimierten Institutionen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag blockiert. Denn einen politischen Fahrplan, wie es dann hätte weitergehen sollen, hat niemand. Ägyptens Opposition ist schwach, chaotisch und zerstritten. Liberale und Säkulare haben zur Lösung von Ägyptens Problemen bisher wenig Konstruktives beigetragen.

Präsident Mursi dagegen hat den Bogen überspannt. Statt mit einem klugen Präzisionsdekret zugunsten von Verfassungsgebender Versammlung und Oberhaus zu operieren, unterwarf der Präsident sich gleich die gesamte Judikative. Dabei hätte er die Mehrheit der jüngeren Richter, denen die Dominanz der alten Mubarak-Cliquen schon lange auf die Nerven geht, genauso leicht auf seine Seite ziehen können wie im August die Nachwuchsgeneräle bei der Absetzung des Obersten Militärrates mit dem greisen Ewig-Marschall Hussein Mohammed Tantawi. Stattdessen tragen ihm seine Keulendekrete nun den Vorwurf pharaonischer Machtgier ein, bringen empörte Volksscharen auf die Beine und die politische Opposition zu nie zuvor gekannter Einigkeit.

Präsident, Justiz und Opposition – alle haben die gefährlich verfahrene Situation in Ägypten mit heraufbeschworen. Alle Seiten müssen sich nun zu Kompromissen zusammenraufen, sollen Ägyptens Chancen gewahrt bleiben, den post-revolutionären Übergang zu meistern.

Es geht ums künftige Gesicht Ägyptens

Der Oberste Richterrat baute Mursi mit dem Vorschlag, die Machtdekrete auf den konkreten Schutz für Verfassungsgebende Versammlung und Oberhaus einzuschränken, eine goldene Brücke. Säkulare Kräfte und Kirchen wiederum könnten ihren Boykott der Verfassungsgebenden Versammlung aufgeben, wenn sie eine Sperrminorität gegen die Scharia-Wünsche der übermächtigen Mehrheit zugesprochen bekämen. Oder Mursi könnte die 100-köpfige Kammer mit zwei Dutzend Verfassungsexperten aufstocken und so die islamistische Dominanz unter die Zweidrittel-Schwelle drücken.

Der Kern des Konflikts ist das künftige Gesicht Ägyptens, wie es in der neuen Verfassung auf Jahrzehnte verankert werden soll. Die islamistische Mehrheit will eine vom Islam geprägte Grundordnung unter Dach und Fach bringen. Die säkularen Kräfte im Schulterschluss mit der koptischen Minderheit und den alten Mubarak-Eliten wollen das verhindern. Die Eskalation um Mursis Dekrete aber zeigt, keines der Lager wird sich durchsetzen können, ohne die gesamte Nation in heillose Turbulenzen zu stürzen.