Gaza/Washington. Der Nahost-Konflikt eskaliert weiter. Die israelische Armee beruft 16.000 Reservisten ein, eine Bodenoffensive wird nicht ausgeschlossen. Eine für den Besuch des ägyptischen Ministerpräsidenten in Gaza angekündigte Feuerpause wurde gebrochen - der wechselseitige Raketenbeschuss dauerte an.

Die Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern hält trotz einer vorübergehend vereinbarten Waffenruhe an. Radikale Palästinenser feuerten am Freitag zahlreiche Raketen auf den Süden Israels ab, wie die israelische Armee mitteilte. Die israelische Luftwaffe antwortete mit einem Angriff auf das Haus eines Hamas-Kommandeurs, wie aus Kreisen der Palästinensergruppe verlautete. "Die Hamas respektiert nicht den Besuch des ägyptischen Ministerpräsidenten im Gazastreifen und verletzt die vorübergehende Feuerpause, in die Israel vor dem Besuch eingewilligt hat", erklärte ein Sprecher von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu über den Kurznachrichtendienst Twitter.

Inmitten der eskalierenden Gewalt war der ägyptische Ministerpräsident Hischam Kandil zuvor im Gazastreifen eingetroffen, um die Chancen für einen dauerhaften Waffenstillstand auszuloten. Während des etwa dreistündigen Aufenthalts der ägyptischen Delegation wollte die israelische Armee ihre Angriffe auf den Gazastreifen aussetzen unter der Bedingung, dass auch die Hamas ihren Raketenbeschuss auf Israel stoppt. Angesichts einer drohenden Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen warnte Bundesaußenminister Guido Westerwelle vor einer weiteren Eskalation der Gewalt im Nahost-Konflikt.

Vor dem Hintergrund der jüngsten Gewalteskalation begann die israelische Armee damit, 16.000 Reservisten einzuberufen. Dies teilte das Militär am Freitag mit. Verteidigungsminister Ehud Barak hatte der Armee zuvor grünes Licht gegeben, bis zu 30.000 Reservisten einzuberufen. In israelischen Regierungskreisen wurde eine Bodenoffensive im Gazastreifen nicht ausgeschlossen.

130 Angriffe auf Gazastreifen in der Nacht zu Freitag

Seit Mittwochnachmittag flog die israelische Armee nach eigenen Angaben 466 Luftangriffe auf den Gazastreifen. Im selben Zeitraum hätten militante Palästinenser rund 280 Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert, von denen 131 abgefangen worden seien. Die neue Luft-Offensive soll nach israelischen Angaben den weiteren Raketen-Beschuss aus dem Gazastreifen verhindern.

Die Gewalt hielt auch in der Nacht zum Freitag weiter an. Das israelische Militär habe in der Nacht rund 130 Angriffe auf den Gazastreifen geflogen, darunter dutzende Angriffe auf Gaza-Stadt. Das teilte das Innenministerium der radikalislamischen Hamas am frühen Freitagmorgen mit. Reporter in Gaza-Stadt berichteten ebenfalls von unzähligen Angriffen.

Mindestens 19 Palästinenser und drei Israelis getötet 

Bei den Angriffen sei ein Gebäude des Innenministeriums der Hamas zerstört worden, sagte ein Sprecher. Augenzeugen berichteten von mehreren zerstörten Trainingsposten, die von militanten Palästinensern genutzt würden.

Israels Armee teilte auf Anfrage mit, die Angriffe würden andauern. Aus dem Gazastreifen seien zudem in der Nacht mindestens elf Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert worden.

Zwei Raketen auf Großraum Tel Aviv

Am Donnerstagabend wurden bei den Angriffen im Gazastreifen mindestens drei junge Palästinenser getötet, wie die Hamas mitteilte. Seit dem Aufflammen der Gewalt am Mittwoch, als Israel den Militärchef der Hamas getötet hatte, wurden neuen Angaben palästinensischer Rettungskräfte zufolge mindestens 19 Palästinenser getötet, darunter viele Kinder.

Auf israelischer Seite starben drei Menschen. Am frühen Donnerstagabend hatten Hamas und Islamischer Dschihad aus dem Gazastreifen zwei Raketen auf den Großraum Tel Aviv abgeschossen. Bei dem ersten derartigen Einschlag seit über 20 Jahren wurde aber niemand verletzt.

Westerwelle betont Israels Recht auf Selbstverteidigung

Der Westen und die arabische Welt reagierten zutiefst besorgt auf die Gewalt. Washington erklärte, es gebe "keinerlei Rechtfertigung für die Gewalt" der Hamas. Der britische Premierminister David Cameron drückte seinem israelischen Kollegen Benjamin Netanjahu seine "tiefe Beunruhigung" aus.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) betonte in einem Telefonat mit Israels Außenminister Avigdor Lieberman das Recht des Landes auf Selbstverteidigung. Frankreichs Präsident François Hollande äußerte sich ähnlich.

Türkei wirft Israel "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor 

Indes verurteilten arabische Staaten vornehmlich das Verhalten Israels. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) sprach von einem "Angriff gegen die Gesamtheit der islamischen Nation" und rief den UN-Sicherheitsrat an.

Ägyptens Präsident Mohammed Mursi sagte in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache, Israel müsse verstehen, "dass wir diese Aggression, die nur zu Instabilität in der Region führen kann, nicht akzeptieren".

Während dieses Besuchs will das israelische Militär keine Angriffe auf das Palästinensergebiet fliegen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe eingewilligt, einer entsprechenden Bitte der Regierung in Kairo nachzukommen, sagte ein ranghoher israelischer Regierungsvertreter. Einzige Bedingung sei, dass während des für drei Stunden angesetzten Besuchs von Kandil keine Raketen vom Gazastreifen aus auf Israel abgefeuert würden.

Russlands Präsident Putin mahnt zur Deeskalation

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu sprach bei den israelischen Angriffen gar von einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete.

Russlands Präsident Wladimir Putin forderte zwar beide Seiten zur Deeskalation auf; Israels Reaktion auf den Raketenbeschuss auf den Gazastreifen sei aber "unverhältnismäßig". Tschechiens Präsident Vaclav Klaus sagte wegen der anhaltenden Gewalt eine für das Wochenende geplante Reise nach Israel ab.

Israel behält sich eine Bodenoffensive im Gazastreifen vor

Israels Verteidigungsminister Ehud Barak billigte unterdessen die Einberufung von bis zu 30.000 Reservisten. Laut Armee kann die Einberufung jederzeit erfolgen. Die Armee sei dabei, "die Kampagne auszuweiten".

Am späten Donnerstagabend transportierten mindestens zwölf Tieflader Panzer und gepanzerte Truppentransporter ins Grenzgebiet. Zahlreiche Soldaten wurden mit Bussen in die Region gebracht. Israelische Fernsehsender meldeten, die Invasion sei für den Freitag geplant.

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Die Streitkräfte dementierten die Berichte und erklärten, bislang sei noch keine Entscheidung über einen Einmarsch in den Gazastreifen gefallen. Zuvor hatte Netanjahu erklärt, Israel werde "weiterhin alles Nötige tun, um seine Bevölkerung zu schützen". Eine Bodenoffensive behielt sich die Regierung ausdrücklich vor. (rtr/afp/dapd)