Karlsruhe. Die Absprachen zwischen Anklage und Verteidigung kürzen zwar Prozesse erheblich ab. Jedes fünfte Strafverfahren wird inzwischen auf diese Weise abgeschlossen. Allerdings werden dabei oft die Regeln missachtet - und zu milde Urteile gefällt.

Das Bundesverfassungsgericht steht der derzeitigen Praxis bei Absprachen zwischen Verteidigern, Anklage und Gericht in Strafprozessen skeptisch gegenüber. In der mündlichen Verhandlung über die sogenannten Deals bewerteten es die obersten Richter am Mittwoch als "besonders irritierend", dass die Absprachen offenbar häufig ohne Einhaltung der dafür geltenden Vorschriften getroffen würden. Ob solche Gespräche dann nicht eigentlich illegale Verständigung heißen müssten, fragte Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff.

Der Zweite Senat verhandelt über drei Verfassungsbeschwerden gegen Urteile, die aufgrund von Deals zwischen Richtern, Staatsanwälten und Anwälten zustande gekommen waren. Ein Urteil ist erst in einigen Monaten zu erwarten. (Az.: 2 BvR 2628/10). Absprachen in Strafprozessen gibt es seit vielen Jahrzehnten. Ein Angeklagter legt demnach ein Geständnis ab und bekommt dafür eine mildere Strafe. Vor allem in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen wird dies häufig gehandhabt, um langwierige Prozess zu vermeiden.

In der Regel ein Drittel Straferlass

Seit 2009 sind Deals gesetzlich geregelt. Damit sollte für mehr Transparenz bei den unter Juristen heftig umstrittenen Verständigungen gesorgt werden.

AbsprachenNach einem Gutachtens des Düsseldorfer Strafrechtlers Karsten Altenhain werden 20 Prozent der Strafverfahren bei Amts- und Landgerichten mit einem Deal beendet - viele jedoch ohne Einhaltung der Vorschriften. Mehr als die Hälfte der Angeklagten lege nach Einschätzung ihrer Anwälte ein falsches Geständnis ab, sagte Altenhain. Auch werde den Angeklagten verbotenerweise häufig vorgerechnet, welche Strafe sie in im Falle eines normalen Verfahrens erwarte. In der Regel bekommen Angeklagte dem Gutachten zufolge bei einem ausgehandelten Geständnis eine um bis zu 30 Prozent geringere Strafe.

In ihrer Befragung der Fachleute sondierten die Richter auch, welche Konsequenzen eine völlige Abschaffung von Absprachen für die Justiz hätte. Aber sie prüfen offenbar auch die Möglichkeiten, den Deal kontrolliert zuzulassen. "Das schreit nach schärferen Kontrollen", sagte der Gerichts-Berichterstatter Herbert Landau.

Bundesministerin überrascht über die gegenwärtige Praxis

Auch befragte Spitzenjuristen zeigten sich kritisch gegenüber Deals. Für die Angeklagten würden oft viel zu geringe Strafen herauskommen, kritisierte etwa der Präsident des Bundesgerichtshofes (BGH), Klaus Tolksdorf. Das verstoße gegen die Prinzipien des Strafrechts, wonach Strafen schuldangemessen sein müssten. Mit kürzeren Verfahren ließe sich das nicht rechfertigen. Vor allem Staatsanwälte würden unnötig unter Druck geraten, sagte Generalbundesanwalt Harald Range. Deals würden auch dazu führen, dass Strafrichter ihre eigentliche Arbeit verlernten.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigte sich nach der Verhandlung verwundert über die gegenwärtige Praxis. "Es ist erschreckend, dass Beschränkungen nach Einschätzung von Experten im großen Umfang nicht eingehalten werden", ließ sie in Karlsruhe mitteilen.

Umstrittenes Beispiel: Ein Deal für Kinderschänder

Ein Beispiel für einen solchen höchst umstrittenen "Deal" aus jüngster Zeit: Das Rostocker Landgericht verurteilte den prominenten Radiomoderator Marcus J. am Dienstag (6. November) wegen sexuellen Kindesmissbrauchs zu einer Haftstrafe von drei Jahren und zwei Monaten. Der 39-Jährige hatte zugegeben, zwischen 2005 und 2006 ein Mädchen seit dessen 13. Lebensjahr insgesamt 26 Mal missbraucht zu haben. Die verhältnismäßig milde Strafe war das Ergebnis einer vor dem Prozess getroffenen Absprache. Ansonsten hätten dem Angeklagten laut Strafprozessordnung bis zu zehn Jahre Haft gedroht.

J. hatte das damals zwölfjährige Mädchen bei seinem Arbeitgeber, einer der größten privaten Radiowellen Mecklenburg-Vorpommerns kennengelernt. Es hatte bei einem Gewinnspiel eine CD gewonnen und wollte sie dort abholen. Die beiden hätten sich daraufhin häufiger getroffen. Kurz vor dem 13. Geburtstag des Mädchens kam es zum ersten Geschlechtsverkehr.

Das Verfahren vor dem Rostocker Landgericht dauerte nur einen Tag. Angesetzt waren eigentlich sechs Verhandlungstermine. Der Vorsitzende Richter sprach selbst von einer "überraschenden Wende" in dem Verfahren: Am 1. November hatte er sich mit Verteidigung und Staatsanwaltschaft in seinem Richterzimmer getroffen, um die Absprache auszuhandeln. "Solche Vereinbarungen sind in der Öffentlichkeit mit dem Dünkel des Anrüchigen behaftet", räumte der Richter während der Urteilsverkündung ein. Doch das Geständnis und die schnelle Abwicklung des Falles sollte auch dem heute 20-jährigen Opfer eine Aussage vor Gericht ersparen. (rtr/dapd)