Washington. . Würden die Deutschen den amerikanischen Präsidenten wählen, wäre die Sache klar: Barack Obama würde mit Riesenvorsprung gewinnen. Doch die Amerikaner ticken anders. Warum der reiche Republikaner gute Chancen hat, am 6. November gegen Amtsinhaber Barack Obama zu gewinnen. Eine Analyse.
Amerika tickt anders. Nicht so, wie es sich viele Deutsche vielleicht wünschen. Könnten sie wählen, dem Hoffnungsträger von 2008 Barack Obama wäre eine zweite Amtszeit nicht zu nehmen. 90 Prozent und mehr. Von solchen Zustimmungsraten kann der US-Präsident daheim nicht einmal träumen. Eine Woche vor der Wahl stehen die Chancen fifty-fifty, bestenfalls. Deutschland sollte nicht überrascht sein, wenn es am 7. November mit Mitt Romney aufwacht. Denn es gibt viele Amerikaner, die den Republikaner für das kleinere Übel halten. Warum?
Die zerrissene Nation
Es gibt keine politische Mitte mehr in Amerika, nur noch Ränder. Der sieben-Prozent-Vorsprung Obamas vor vier Jahren gegen den Vietnam-Veteranen John McCain war ein Ausrutscher. Stabile Mehrheiten gibt es nicht. Knappe Wahlausgänge sind die Regel. Das Zwei-Parteien-System produziert sie. Ausschussware einer Demokratie, die nur eine Alternative kennt. Das Entweder-Oder lässt die Gruppe der Wechselwähler größer werden. Sie wählen emotionslos mal so und mal so. Obama kämpft um sie. Romney mit mehr Wahlkampfspenden im Rücken auch.
Die enttäuschte Nation
Amerikaner erwarten von ihrem Präsidenten, dass er für Jobs, Wohlstand und Frieden sorgt. Vor diesem Hintergrund entpuppte sich Obamas Sieg früh als schwere Hypothek. Sein Vorgänger George W. Bush hinterließ ein wirtschaftlich, finanziell und moralisch zu Schanden regiertes Land. Obama empfahl sich als Wundenheiler: „Hoffnung und Wandel“. Darunter verstehen Amerikaner sattes Wachstum, billiges Benzin und Vollbeschäftigung. Sofort. Obama hat die selbst geweckten Erwartungen nicht erfüllt, auch wenn er zwei Kriege beigelegt, Banken und Auto-Industrie vor dem Crash bewahrt, mit der Einführung einer Krankenversicherung für alle einen historischen Schritt getan und gesellschaftliche Lockerungsübungen (Homo-Ehe etc.) durchgeboxt hat. 23 Millionen Arbeitslose und Unterbeschäftigte und 16 Billionen Dollar Staatsschulden stehen auf seinem Deckel. Der Wirt, das Volk, ist übellaunig. Romney steht an der Theke und prahlt, die Zeche sofort bezahlen zu können. Seine Zeit als An- und Verkäufer von Firmen wird als Nachweis von Seriosität akzeptiert.
Obama gegen Romney
Die unversöhnliche Nation
Die Republikaner betrachten den ersten Schwarzen im Weißen Haus bis heute als Betriebsunfall. Alle Schlechtigkeiten – Sozialismus, Staatsgläubigkeit, Schwächung der Rolle Amerikas in der Welt – dichteten sie ihm an. Ihre Politik ist von Blockade und Sabotage getragen. Obama waren nach den Halbzeitwahlen 2010, als das bis dahin demokratische Repräsentantenhaus an die Republikaner fiel, politisch die Hände gebunden. Schlecht für Obama, gut für Romney: Am Ende richtet sich die Wut der Wähler über den Moloch Washington nicht gegen den Verursacher des Stillstands, sondern gegen den Mann an der Spitze, der seine Macht nicht zur Geltung brachte.
Die sprachlose Nation
Amerika redet nicht mehr miteinander. In den vergangenen 20 Jahren haben sich zwischen liberaler Küste und konservativem Herzland die Fronten zwischen Frommen und Säkularen derart verhärtet, dass sich politische Meinungsbildung nur noch über ideologisch stubenreine Propaganda-TV-Kanäle vollzieht; hier die Linken (auf MSNBC), dort die Rechten (auf Fox News). Wer den dort allabendlich verabreichten Glaubenssätzen – a) Steuersenkung für Reiche, Deregulierung, Rückzug des Staates, Stärkung der Eigenverantwortung oder b) Steuererhöhung für Reiche, Kontrolle der Märkte, solidarisches Gesundheitssystem, gesellschaftliche Liberalität – nicht folgt oder zu vermitteln versucht, wird mit religiösem Eifer bekämpft. Fox News ist Quotenkönig. Im Land haben sich hermetisch getrennte Welten von gut Situierten und Ausgeschlossenen herausgebildet, die keine Schnittmengen mehr teilen. Dazwischen baumelt eine Mittelschicht, der das Wasser bis zum Hals steht. Obama hat es nicht geschafft, die Deutungshoheit über den verfeindeten Stammtischen zu erlangen. Amerika ist von innerer Versöhnung meilenweit entfernt. Viele sagen: Vielleicht hat Mitt Romney ja was von Ronald Reagan – und eine glücklichere Hand,
Die verunsicherte Nation
Amerikaner wachsen mit dem vererbten Glauben auf, anders zu sein als der Rest der Menschheit: auserwählt, nach jedem Rückschlag stärker als zuvor. Aus diesem Grundoptimismus speist sich der „amerikanische Traum“, für den Millionen jede Entbehrung auf sich nehmen; mit der Zuversicht, dass es sich in einer besseren Zukunft spätestens für die nachkommende Generation doppelt niederschlägt. Das Fundament dieses Modells hat Risse bekommen. Die Mittelschicht hat seit 2002 zehn Prozent Kaufkraft eingebüßt. Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über den Gegenwert von 22 Prozent des Sozialprodukts. Dagegen leben 50 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Wegbrechende Industrien, sinkende Löhne, hartnäckige Arbeitslosigkeit, obszöne Verschuldung, mangelnde Aufstiegschancen, eine miserable Infra- und Bildungsstruktur, Immobilien-Krise, enorme Lebenshaltungskosten und das Erstarken der Konkurrenz von China über Brasilien bis Indien lassen viele an der angemaßten „Einzigartigkeit“ Amerika zweifeln. Der Unmut produziert Abwehr-Reflexe: gegen Einwanderer, gegen den Staat, gegen Obama, der die „Einzigartigkeit“ in einer globalisierten Welt leiser buchstabiert. Romney tut das Gegenteil. Er beschwört Amerika in alter Western-Mythologie als die „strahlende Stadt auf dem Hügel“ und die „Hoffnung der Erde“. Patrioten ist das wie Balsam auf die wunde Seele. Und am Ende sind alle Amerikaner Patrioten.