Essen. . Ingenieure und Ärzte fehlen schon jetzt - bald wird es in Deutschland auch an Schlossern oder Elektrikern mangeln. Ab 2013 sollen deshalb auch Auszubildende aus dem Ausland angeworben werden.

Schon mangelt es Deutschland an Ingenieuren und Ärzten. In ein paar Jahren aber werden auch Schlosser oder Elektriker fehlen. Ein Gespräch mit Raimund Becker, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit.

Deutschland hat sich im Vergleich zu anderen europäischen Staaten von der Finanzkrise schnell und gut erholt. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Sieht die Zukunft auch so rosig aus?

Becker: Der Arbeitsmarkt ist heute robust und wird so auch ins nächste Jahr gehen. Der prognostizierte Rückgang des Bruttoinlandsproduktes wird dazu führen, dass die Arbeitslosigkeit etwa auf dem Niveau von 2012 bleibt, vielleicht wird es 30.000 Arbeitslose mehr geben. Der Anstieg der Beschäftigung wird vorerst bleiben. Aber Deutschland wird das Problem haben, in den nächsten fünf bis zehn Jahren den Bedarf der Wirtschaft an qualifizierten Fachkräften nicht stillen zu können.

Wie hoch wird der Fachkräftemangel sein?

Becker: Was die Gesamtheit der Arbeitskräfte betrifft, werden wir im Jahr 2025 etwa 6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger haben, die die Wirtschaft braucht – wenn wir nichts unternehmen. Aber wir arbeiten ja daran, z.B. nehmen mehr ältere Arbeitnehmer und Frauen am Erwerbsleben teil, und es gibt eine leichte Zuwanderung. Trotzdem werden es bis 2025 immer noch 3,5 Millionen. Arbeitskräfte weniger sein.

Wie sieht die Lösung aus?

Becker: Wir brauchen eine Doppelstrategie. Zum einen müssen wir inländisches Potenzial aktivieren, indem wir zum Beispiel Familie und Beruf besser vereinbaren, eine bessere Kinderbetreuung schaffen, damit mehr Frauen am Erwerbsleben teilhaben können. Auch beim Übergang von der Schule in den Beruf können wir besser werden. Aber selbst das wird nicht ausreichen. Deshalb brauchen wir zusätzlich eine gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften.

Seit Mai 2011 gibt es die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Staaten in Osteuropa. Was hat sie gebracht?

Becker: Es sind „nur“ 100 000 gekommen. Davon sind 80 000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind nicht nur diejenigen gewesen, die zugewandert sind. Sondern: Viele, die bereits in Deutschland waren, haben ihren Beschäftigungsstatus geändert haben. Das heißt: Die Erwartung, dass Hunderttausende Menschen durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland kommen, hat sich nicht bewahrheitet.

Woran liegt das?

Becker: Deutschland hat lange gezögert und die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht früher gewährt. Wir haben die Frist bis zum Schluss ausgereizt. Viele Arbeitnehmer aus diesen osteuropäischen Ländern haben deshalb Beschäftigung in Großbritannien – England, Irland – gefunden, dort Netzwerke gegründet, durch die weitere Arbeitnehmer angezogen wurden.

Warum sowenig Arbeitnehmer aus Krisenstaaten kommen 

Und die Zuwanderung aus den Krisenstaaten? Wie viele Arbeitnehmer kommen aus Spanien oder Griechenland nach Deutschland?

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Becker: Ja, wir haben alle gedacht: In den Krisenstaaten herrscht eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent, eine Jugendarbeitslosigkeit von etwa 50 Prozent – jetzt kommen einige nach Deutschland. Von Mai 2011 bis Mai 2012 sind 28 000 Menschen aus Spanien, Portugal, Griechenland und Italien nach Deutschland gekommen, um sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nachzugehen.

Warum so wenige?

Becker: Es gibt eine Vielzahl von Gründen. Zum einen ist Deutsch keine Weltsprache. Und es ist schwierig zu lernen. Zudem ist die Migrationsbereitschaft in südlichen Ländern aus kulturell-familiären Gründen weniger stark ausgeprägt. Drittens: Deutschland hat das duale Ausbildungssystem, das es in Spanien und Portugal nicht in der Form gibt. Zusätzlich haben wir das Problem der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Und dann ist da die Frage des Verdienstes. Menschen wandern nur dann aus, wenn sie sehen, dass es sich finanziell lohnt.

Was muss getan werden?

Becker: Auf Seiten der Bewerber muss die deutsche Sprache gelernt werden. Dann gelingt für Qualifizierte oft eine erfolgreiche Vermittlung. Unter anderem haben wir mit der Zentralstelle für Auslandsvermittlung (ZAV) in Bonn Profis, die sich darum kümmern. 120 Leute haben bereits Fachkräfte aus Spanien, Portugal und anderen Staaten nach Deutschland geholt und arbeiten weiter daran.

Wie funktioniert das konkret?

Becker: In Spanien gab es bereits in diesem Jahr 30 Veranstaltungen, wir waren auf großen Messen, haben Auswahlverfahren mit Arbeitgebern organisiert. Im letzten Dezember hat die ZAV an spanischen Unis 100 von 300 Ingenieuren angesprochen, die zu kleineren und mittleren Unternehmen im Raum Stuttgart passen würden. Sie waren zwei Tage in Stuttgart und wurden mit potenziellen Arbeitgebern zusammengeführt. Daraus sind 25 Arbeitsverhältnisse entstanden, weitere bahnen sich an. Wir haben über die ZAV von Januar bis September 600 Stellenbesetzungen erreichen können - Ingenieure, Ärzte und Arbeitnehmer im Hotel- und Gaststättenbereich. Es gibt derzeit etwa 2000 Menschen aus den europäischen Staaten, die interessiert sind, in Deutschland zu arbeiten. Davon 500 Ingenieure, die relativ gut deutsch sprechen und gut ausgebildet sind. Ab 2013 wollen wir auch junge Menschen aus dem Ausland in Deutschland ausbilden.

Stiehlt Deutschland den Krisenstaaten die Zukunft? 

Mit welchem Ziel? Sollen die Jugendlichen auch nach der Ausbildung in Deutschland bleiben? Stiehlt man Spanien und Portugal damit nicht die Hoffnung der Zukunft?

Becker: Am Schluss wird der Jugendliche allein entscheiden, was er will. Er wird dann bleiben, wenn er das Gefühl hat, dass er hier freundlich willkommen geheißen wird, dass er sich in die Umgebung einfügen und Freunde gewinnen konnte. Wenn das nicht gelingt, geht er zurück. Dennoch ist das Programm eine gute Investition in ein zusammenwachsendes Europa und in einen internationalen europäischen Arbeitsmarkt.Egal wie er sich entscheidet, es bringt Vorteile: Wenn er zum Schlosser ausgebildet wird, wird er hier einen guten Job machen. Wenn er gut ausgebildet ist und zurück nach Spanien geht, wird er dort auch von deutschen Unternehmen wie Mercedes oder Siemens mit Kusshand genommen. Wir haben mit dem Ministerium ein Programm über 40 Millionen Euro entwickelt, mit dem wir in Sprachkurse in z.B. Portugal, Spanien und Polen investieren können, um Jugendliche für Deutschland fit zu machen. Zusätzlich werden wir im Januar eine Jugendkonferenz in Berlin mit zehn europäischen Staaten machen, die die größten Probleme mit Jugendarbeitslosigkeit haben.

Das alles ist ein riesiger Aufwand. Haben Sie die finanziellen Mittel?

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Becker: Bisher tragen wir die Kosten aus unseren Haushaltsmitteln. Wenn wir aber mehr Menschen aus Drittstaaten akquirieren sollen, dann stellen sich viele Fragen, z.B. nach Kooperationspartnern, aber auch nach der Finanzierung. Es ist auch eine politische Entscheidung, ob eine solche Dimension der Zuwanderung grundsätzlich gewollt ist.

Und? Will man sie?

Becker: Es gibt ja schon erste Signale. Zum Beispiel mit der Bluecard, aber die ist nur an Akademiker adressiert. Für die Facharbeiter aber gibt es bisher keine Änderung. Ein kleiner Teil ist für Pflegekräfte in der Beschäftigungsverordnung geregelt.

Was muss sich ändern?

Becker: Im Moment gibt es einen Mangel an Ingenieuren im Maschinenbau und im Elektrowesen sowie bei den Ärzten. In ein paar Jahren werden aber auch Schlosser oder Elektriker fehlen. In dem Bereich gibt es heute noch keine Regelungen. Das Fernziel müsste sein, vielleicht eine Art Punktesystem zu etablieren, über das diejenigen angesprochen werden, die in Deutschland fehlen. Das kann man entwickeln über eine Positivliste, wie wir es mit Ingenieuren gemacht haben. Auf diese Liste müssten dann Mangelberufe aufgenommen werden. Zusätzlich stellt sich die Frage: Aus welchen Ländern sollen die Zuwanderer kommen? Welche Interessen aus arbeitsmarktpolitischer, wirtschaftspolitischer, außenpolitischer oder geostrategischer Sicht müssen wir dabei berücksichtigen? Und: Investieren wir in Bildungseinrichtungen in diesen Ländern? Ungeklärt ist auch, wer das koordinieren soll. Ebenso muss in diesem Zusammenhang über die Rolle von Botschaften, Konsulate, Außenhandelskammern, GIZ, Goethe-Institute nachgedacht werden.

Wie Deutschland um Nachwuchskräfte werben sollte 

Nicht zuletzt braucht Deutschland eine Marketingstrategie, um für sich zu werben.

Becker: Ja. Wir müssen ausländische Fachkräfte für Deutschland interessieren, zeigen dass Deutschland attraktiv ist. Aber wir brauchen vielleicht fünf bis zehn Jahre dafür, bis sie annehmen können, dass Deutschland wirklich Menschen aus anderen Ländern willkommen heißt. Das geht nicht auf Knopfdruck. Es geht jetzt darum, eine sympathische Willkommenskultur zu schaffen. Um das zu erreichen, müssen auf politischer Ebene die Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Wie funktioniert die Anwerbung praktisch?

Becker: In den Ländern gibt es unterschiedliche Potenziale, die die jeweiligen Ausbildungssysteme leisten. Wir haben ein Screening erstellt.

Ein Beispiel?

Becker: In Deutschland mangelt es an examinierten Pflegekräften. Also fragen wir uns: Welche Länder bilden ähnlich aus und wie ist die Sprachkompetenz dort? Dann sieht man: In Portugal gibt es gut ausgebildete Pflegekräfte mit einer universitären Ausbildung über sechs Semester. Wir finden das in Bosnien-Herzegowina, in Serbien. Dort sind Teile der Bevölkerung deutschsprachig. Andere Länder haben zum Beispiel mehr auf den technischen Bereich gesetzt – in Spanien gibt es viele Ingenieure. Problematisch aber ist oftmals die Anerkennung der jeweiligen Berufsabschlüsse.

Seit April sind aber erst rund 100 Berufsabschlüsse anerkannt worden…

Becker: Das Anerkennungsgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es ist sehr bürokratisch. Wenn Sie einen Arzt in Deutschland als Arzt anerkennen wollen, werden Sie viele Hürden überwinden müssen. Es gibt 16 Bundesländer, 16 verschiedene Anerkennungsverfahren. Da ist der Föderalismus nicht von Vorteil.

Das Image von Deutschland ist das eine. Umgekehrt fragen sich viele Bürger: Brauchen wir Zuwanderer in Deutschland? Befürchten Sie eine Neiddebatte?

Becker: Wir müssen ein kluges, politisches Vorgehen wählen. Der falsche Weg wäre, Zuwanderer willkürlich ins Land zu lassen. Dann entstehen Verdrängungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb die Doppelstrategie – inländische und ausländische Anwerbung. Sie müssen der Bevölkerung vermitteln: Du, der du in Deutschland bist, wir kümmern uns erstmal um dich, damit du die Chance hast, bei uns zu arbeiten. Wir beschränken uns zunächst auf zugewanderte Ingenieure und Ärzte. Denn: Da gibt es bundesweit nicht genügend Bewerber. Pro Stelle gibt es z.B. im Ingenieurbereich 0,8 Bewerber.

Warum sind das so wenige?

Becker: Von 100 Beginnern einer Ausbildung zum Ingenieur erleben nur 60 das Ende. Irgendwo gibt es Abschreckungselemente während des Studiums. Beim Bauingenieurwesen gibt es das Fach „Konstruktive Mathematik“ – das ist für viele Studenten eine große Hürde. Das braucht man, wenn man eine Golden Gate-Brücke baut. 99 Prozent bauen zwar niemals eine solche Brücke, scheitern aber an diesem Fach. Darüber muss man nachdenken. Das hat zur Folge, dass über das eigene Ausbildungssystem nicht genügend nachkommen, um den Bedarf zu stillen. Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist der Maschinenbau – deshalb braucht sie Maschinenbauingenieure.

Wird der Fachkräftemangel für Unternehmen zum existenziellen Problem?

Becker: Das kann sein, muss aber nicht. Wir können mit den beschriebenen Maßnahmen gegensteuern. Probleme werden eher kleinere und mittlere Mittelständler haben, denen einige Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen, z.B. die Produktion ins Ausland zu verlagern.

Zum Abschluss: In Neuss gab es einen schrecklichen Vorfall, eine Mitarbeiterin des Jobcenters wurde getötet. Werden nun auch die Sicherheitskonzepte der Arbeitsagenturen überdacht?

Becker: Dieser schlimme Vorfall ist durch nichts zu rechtfertigen. Wir haben seit Jahren Sicherheitskonzepte, die überprüft und immer wieder angepasst werden. Jeder Mitarbeiter hat am Computer einen Alarmknopf. Innerhalb von 20 Sekunden kommt Hilfe. Wir haben Zwischentüren, Schulungsmaßnahmen, in denen Mitarbeiter im Ungang mit aufgebrachten Kunden ausgebildet werden. Aber: Wir können solche Situationen nie völlig ausschließen. Wir haben den Vorfall aber zum Anlass genommen unsere Konzepte zu überprüfen, das muss regional unterschiedlich gelöst werden. Manche Dienststellen haben einen Sicherheitsdienst, andere nicht, weil es aufgrund der Klientel nicht erforderlich ist. Wir lassen in manchen Regionen die Sicherheitskonzepte mit Polizei und Innenministerium überprüfen. Was wir nicht wollen, ist, dass unsere Mitarbeiter hinter Glasscheiben sitzen und der Kontakt mit dem Kunden leidet. Wir haben pro Jahr weit mehr als 20 Millionen Gespräche mit Kunden, die meisten verlaufen vertrauensvoll, schwierige Situationen sind die Ausnahme. So schwierig es in dieser auch Situation ist: Unser Ziel ist es, auch weiterhin vertrauensvoll mit unseren Kunden zusammenzuarbeiten.