Istanbul. . Nach der syrischen Grenzverletzung hat das türkische Parlament dem Militär ein Mandat für den Einsatz in Syrien erteilt. Muss auch die Nato eingreifen?
Der Angriff der Türkei auf einen Militärstützpunkt in Syrien könnte den syrischen Bürgerkrieg in einen regionalen Konflikt verwandeln, in den auch Deutschland hineingezogen werden könnte. Dann nämlich, wenn die Türkei den Nato-Bündnisfall ausrufen würde, weil sie als Mitglied des Militärbündnisses angegriffen worden ist. Wie groß die Wahrscheinlichkeit ist und welche Strategie der türkische Ministerpräsident Erdogan verfolgt, im Überblick:
Warum hat die Türkei Ziele in Syrien angegriffen?
Es handelt sich um eine Reaktion auf syrische Grenzverletzungen. Im syrischen Bürgerkrieg sind immer wieder Gebiete in der Türkei beschossen worden. Auch ein Flugzeug der türkischen Luftwaffe war von der syrischen Flugabwehr abgeschossen worden. Beim Einschlag von fünf Granaten waren am Mittwoch im türkischen Grenzort Akcakale eine Mutter und ihre vier Kinder getötet worden.
Wie hat die Türkei reagiert?
Am Mittwoch und am Donnerstag nahm die türkische Armee mit Artilleriegeschützen Gebiete beim syrischen Tell Abjad unter Feuer. Bei dem türkischen Beschuss sollen nach syrischen Angaben, die der TV-Sender Al Dschasira verbreitete, 34 Menschen gestorben sein.
Wann tritt der Bündnisfall für die Nato ein?
Ein Bündnisfall könnte laut Nato-Vertrag dann ausgerufen werden, wenn Angriffe auf das Gebiet eines Nato-Staates sowie auf dessen Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge erfolgen, wenn sie sich im oder über dem Nato-Gebiet oder im Mittelmeer aufhalten. Erstmals wurde der Bündnisfall nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA festgestellt. Der Angriff auf einen Partner wird danach als Angriff auf alle Bündnispartner betrachtet und verpflichtet die anderen Mitglieder zur kollektiven Selbstverteidigung.
Per Definition wären also die Voraussetzungen für einen Bündnisfall gegeben. Kommt es dazu?
Die Türkei hat die Nato nicht um Beistand, sondern nur um Konsultationen gebeten und die Nato der Türkei ihre Solidarität erklärt. Für den Nahost-Experten Volker Perthes ist dies ein „deutliches Signal an Syrien“, dass es bei einer erneuten Grenzverletzung nicht nur die Türkei, sondern das gesamte Militärbündnis als Gegner hätte.
Aber: „Ohne Mandat der Vereinten Nationen hat weder die Türkei noch die Nato ein Interesse an einem weiteren Krieg im Nahen Osten“, sagt der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Als Warnung und nicht als Kriegserklärung sind auch die Ausführungen von Ibrahim Kalin, einem Berater des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan zu verstehen: „Die Türkei hat kein Interesse an einem Krieg mit Syrien. Aber sie ist in der Lage, ihre Grenzen zu schützen und, wenn nötig, zurückzuschlagen.“
Die syrische Regierung hat sich mittlerweile für den Granatenbeschuss entschuldigt. Ist jetzt alles wieder gut?
Die Region werde weiter unter Spannung stehen, aber die Entschuldigung werde zumindest dazu ausreichen, dass – wenn syrische Provokationen ausbleiben – die Türkei keine weiteren Angriffe auf syrisches Gebiet startet, ist Volker Perthes überzeugt.
Dennoch hat das türkische Parlament gestern die Regierung zu „Militäroperationen im Ausland“ ermächtigt. Warum?
In der Beschlussvorlage heißt es, der syrische Beschuss stelle „eine ernste Bedrohung unserer nationalen Sicherheit“ dar. Die Ermächtigung, „türkische Truppen im Ausland einzusetzen“, soll für zunächst ein Jahr gelten. Eine ähnliche Genehmigung hat die Regierung bereits für grenzüberschreitende Einsätze gegen die kurdischen Rebellen im Nordirak. Dies ist als weitere Warnung an Syrien zu verstehen.
Auch im Norden Syriens operieren kurdische Einheiten, die den türkischen Staat bekämpfen. Will Erdogan die Grenzverletzung nutzen, um gegen die Kurden vorzugehen?
Nein. Zuletzt hatte Tayyip Erdogan erklärt, dass er im Kurden-Konflikt eine politische Lösung bevorzugt, da sich der Streit um einen autonomen Kurden-Staat nicht militärisch lösen lasse. Zudem hatte Syriens Präsident Assad die Macht im Norden das Landes an die kurdische Organisation PYC übertragen, die mit der PKK zusammenarbeitet. Jeder Versuch der Türkei, in Syrien eine Art Pufferzone zur Türkei einzurichten, würde von der PYC bekämpft werden. „Daran hat Erdogan kein Interesse“, sagt Volker Perthes.