Essen. . Seit Tagen verfolgt die Welt die Kämpfe im syrischen Aleppo. Jetzt kommt heraus, dass Assads Regime dort eine deutsche Geisel hält. Eine Essener Familie versucht verzweifelt, den Kontakt zu halten.

In Essen-Kray wohnt ein ganz normales Mädchen. Ihre Eltern sind kurdische Einwanderer aus Syrien und der Türkei, sie hat vier jüngere Schwestern, geht bald in die elfte Klasse Gymnasium. Wenn sie das Abi geschafft hat, will sie Medizin studieren.

Doch seit drei Wochen ist nichts mehr so, wie es mal war in Amina Siedos Leben. Ihre Tante Jihan ist mit drei Kindern aus dem umkämpften syrischen Aleppo in die Drei-Zimmer-Wohnung von Aminas Familie geflohen. Seitdem ist auch ein anderer ständig zu Gast: Aminas Onkel Mohamed, der in Aleppo im Gefängnis sitzt. Über den Internetdienst Skype hält er Kontakt zu seiner Familie. Stundenlang verfolgt Amina am Laptop die Berichte ihres Onkels. Es ist, sagt Amina, als sei der Krieg bei ihr eingezogen.

„Gerade sind über mir im Hof Hubschrauber. Die bombardieren wahllos.“ – „Renn doch weg, sonst treffen die dich doch?!?!“ – „Sie vermeiden die Gefangenen. Sonst haben sie keine Tabus.“

Skypen? Im Gefängnis? Geht das?

Dass einer jetzt in Aleppo im Gefängnis sitzen und mit der Familie per Internet kommunizieren kann, ist kaum zu glauben. Und auch für Journalisten letztlich nicht überprüfbar, auch wenn er im Internet Rede und Antwort steht. Von einer sechs Mal fünf Meter großen Zelle erzählt er dort, von 24 Mithäftlingen. Er schreibt: „Die Medien sollen die schläfrige Politik in Deutschland wachrütteln, endlich etwas für die deutsche Geisel in Syrien zu tun.“

Die Geschichte des 51-Jährigen ist abenteuerlich. Mohamed Fawzi Yosef kommt in den 1980er Jahren nach Deutschland, weil ihn das Assad-Regime verdächtigt, zur Muslimbruderschaft zu gehören. In Regensburg lebt er ein vorbildliches Einwanderer-Leben. Er studiert, macht den Magister in Geschichte, arbeitet als Dolmetscher. Liebevoll kümmert er sich um seine Kinder. „Unser Leben war wie im Bilderbuch“, sagt seine Frau Jihan. Inlineskaten an der Donau, Schwimmengehen, Radfahren, sogar in Disneyworld bei Paris sind sie gewesen. Yosef will nicht, dass seine Frau ein Kopftuch trägt, die Kleinen schickt er in den Kindergarten, achtet darauf, dass sie gutes Deutsch lernen. „Er war ein richtiger Bayer“, erzählt Amina. „Er hat uns immer mit Grüß Gott begrüßt.“

„Gestern wurden bei uns 15 erschossen“

„Hallo Amina, bist du schon aufgewacht? Die Polizei hat gestern bei uns mindestens 15 wehrlose Gefangene mit tödlichen Schüssen niedergestreckt, nur weil sie aus Wut und Trauer um gefallene Familienangehörige sich getraut haben, Wandbilder des Diktators wegzureißen.“

Vor zwölf Jahren beschließt die Familie, dass die Mutter mit den Kindern nach Syrien zieht. Weil das Geld nicht reichen wird, um die Kinder hier studieren zu lassen. In den syrischen Schulferien kommen Hani, Pervin, Roujeen und Evin mit ihrer Mutter den Vater besuchen, wann immer dieser kann, kommt er zu ihnen. 2006 will er wieder rüber, vorsichtshalber verständigt er das Auswärtige Amt, fragt, ob er unbesorgt in das Land reisen kann, dessen Staatsangehörigkeit er zusätzlich zur deutschen besitzt.

In Syrien bestätigen sich die Befürchtungen

Bei der Einreise bestätigen sich Yosefs schlimmste Befürchtungen. Er soll sich bei der Geheimpolizei melden. Amina erzählt, wie ihr Onkel daraufhin versucht, mithilfe von Menschenschleppern in den Libanon zu kommen: 1500 Euro haben sie vereinbart. Als sie in Beirut angekommen sind, soll er viel mehr zahlen. Yosef weigert sich, wird plötzlich von Agenten des syrischen Geheimdienstes überwältigt und zurück nach Damaskus gebracht. „Das war wie im Actionfilm“, sagt Amina. „Die wollten eine Million Euro von meinem Onkel, damit sie ihn freilassen.“ Yosef habe sie auf 100 000 Euro heruntergehandelt. Aber auch das ist utopisch. Sie sperren ihn ein, erheben Anklage wegen Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern. Darauf steht die Todesstrafe in Syrien. „Irgendetwas mussten sie ihm ja vorwerfen“, sagt Amina, dabei gehe es doch nur ums Geld.

„Die Verbrecher haben Wasser, Essen und Strom abgebrochen. Es stinkt sehr, weil der Müll nicht entsorgt wird. Ich sage das, damit ihr wisst, was hier los ist. Aber habt keine Angst um mich. Ich werde es schaffen. So Gott es will.“

Die deutsche Botschaft hatte Kontakt

Unzählige Verhandlungen später wird die Todesstrafe in lebenslängliche Haft umgewandelt. Anfangs hat Yosef auch Kontakt zur deutschen Botschaft in Damaskus, wird besucht und betreut. Das Auswärtige Amt bestätigt dies. Man habe Yosef geholfen, einen Anwalt und einen Dolmetscher zu besorgen, so eine Sprecherin. Und immer wieder seien die syrischen Behörden offiziell aufgefordert worden, „den Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten sowie die Einhaltung von internationalen Mindeststandards im Strafvollzug sicherzustellen“. Mehr wollen sie nicht sagen, aber eigentlich ist dies auch schon genug, um sich vorzustellen, wie es Yosef geht, der laut seiner Familie einen Prostatatumor hat, Herzbeschwerden und Rückenschmerzen.

„Wie kann man einen Menschen nur so verrotten lassen?, fragt Amina vorwurfsvoll Richtung deutscher Behörden. Unterirdisch sei er untergebracht, mehrere Massaker habe er schon überlebt, sei grausam gefoltert worden. Vor einem Jahr haben sie ihn von Damaskus nach Aleppo verlegt. Das letzte, was seine Frau für ihn tun konnte, war dieses uralte Nokia-Handy. Mit 500 Lira musste sie die Wärter bestechen, etwa acht Euro. Dann floh sie über die Türkei, 24 Stunden, bevor auch diese Grenze von Assads Armee eingenommen war.

„Er ist mein Schützling“

Bis nachts um vier chattet Amina mit Onkel Mohamed. Sie erzählt ihm von ihren Leistungskursen und vom Fastenbrechen. „Er will es unbedingt wissen“, sagt Amina. Es ist sein Fenster zum Leben. Von Kray aus macht sie ihm Mut. „Schleim dich bei den Wärtern ein“, schreibt sie ihm fürsorglich. Sie hat Journalisten angerufen, will Politiker anschreiben und Menschenrechtsvereine. Wie ernst ein 18-jähriges Mädchen dreinschauen kann, wenn der Krieg in ihr Leben gekommen ist. Sie meldet sich auch am Freitag noch einmal, um zu berichten, dass der Internet-Kontakt plötzlich abgerissen ist. Warum? Für wie lange? „Ich muss ihn da rausholen“, sagt Amina, „Er ist mein Schützling.“