Dortmund. . Sozialwissenschaftler aus dem gesamten Bundesgebiet bereisen die Brennpunkte im Ruhrgebiet, um die Probleme des Strukturwandels, der Arbeitslosigkeit und der Migration hautnah zu erleben und zu erforschen. Zuerst ging es in die Dortmunder Nordstadt, einem Viertel mit einem Migrantenanteil von rund 64 Prozent.

Vermutlich kann man eine solche Frage nur stellen, wenn man nicht von hier ist, nicht aus dem Ruhrgebiet, schon gar nicht aus der Dortmunder Nordstadt: „Haben die türkischen, die ausländischen Jugendlichen denn nicht den Wunsch, mit deutschen jungen Leuten Kontakt zu haben?“, wollte die Dame in dem eleganten Mantel wissen. „Hm“, macht Sozialar­beiter Christian Leye vom Jugend­forum Nordstadt und überlegt. „Das war nie ein Thema in unserem ­Jugendtreff.“ Der Grund: Es gibt so gut wie keine deutschen Jugend­lichen hier. Die Dame ist Sozial­wissenschaftlerin – aus München.

Wenn Wissenschaft auf Wirklichkeit trifft. So könnte man zugespitzt das Motto für die Expeditionen der Soziologen in die Problemzonen des Ruhrgebiets bezeichnen. ­„Soziologie konkret“ heißt der offizielle Titel der Exkursionen für Teilnehmer des großen Soziologen­kongresses, der bis 5. Oktober in ­Bochum und Dortmund stattfindet.

Raus aus den Seminarräumen

Mit dem Bus geht es jeweils einen Tag in die Dortmunder Nordstadt, zu den Claudius-Höfen in Bochum oder nach Duisburg-Marxloh. Raus aus den Seminarsälen und ­Kongresshallen und rein in die Problemviertel, um zu sehen, zu spüren, zu schmecken, was Strukturwandel ist, was Armut, Arbeits­losigkeit, Kriminalität und Bevölkerungsvielfalt mit dem Leben eines Stadtquartiers machen.

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Heute also die Nordstadt. Nicht um die Nase zu rümpfen, sondern als Beispiel für die strukturellen Probleme, die alle großen Städte ­haben, nicht nur im Ruhrgebiet. Klaus Peter Strohmeier führt eine Truppe von rund 40 Soziologen aus ganz Deutschland herum. Der Professor ist Experte für die Hinterhöfe des Reviers. „Soziologie ist keine Buchwissenschaft“, sagt er oft, „man muss raus ins Leben.“ ­Deshalb schickt er seine Studenten gerne mit der Straßenbahn kreuz und quer durch das Ruhrgebiet, ­damit sie Eindrücke einsammeln von den Menschen, die hier leben.

Bis zu 80 Prozent Jugendliche mit Migrationshintergrund

Strohmeier springt im Jugend­forum dem verdutzten Sozialarbeiter bei und erklärt: „53 Prozent der Jugendlichen in Essen unter 18 Jahren haben einen Migrationshintergrund, in Hagen 56 Prozent, in manchen Stadtteilen sind es über 80 Prozent. Wo sollen sich deutsche und ausländische Jugendliche treffen?“ Mit Deutschen in Kontakt zu kommen bedeute, in einen anderen Stadtteil zu fahren. Er bringt es auf den Punkt: „Arm und fremd in einem Stadtteil – reich und deutsch im anderen.“ Und er erzählt die ­Geschichte des türkischen Mädchens, das bei einem Ausflug in den Essener Süden erstmals den Baldeneysee erblickt und fragt: „Gehört das noch zu Deutschland?“

Gesichter der Nordstadt

Fotos zur WR-Serie Gesichter der Nordstadt
Fotos zur WR-Serie Gesichter der Nordstadt © WR/Franz Luthe
"Die Nordstadt wird nicht gerecht beurteilt. Sie ist reich an Kindern, an Kultur, an Kreativität", sagt Martin Gansau, der das Quartiersmanagement Nordstadt leitet. © WR/Franz Luthe
"Die Nordstadt wird nicht gerecht beurteilt. Sie ist reich an Kindern, an Kultur, an Kreativität", sagt Martin Gansau, der das Quartiersmanagement Nordstadt leitet. © WR/Franz Luthe
"Ein kleiner Teil, der Drogen verkauft und kriminell ist, wirft ein schlechtes Licht auf den Rest"so Ako Karim, Lotto-Laden-Betreiber. © Knut Vahlensieck
"Die Menschen brauchen eine Aktivität. Ich möchte mein Potenzial nutzen und ein Vorbild für andere sein", meint Sebastiao Sala, der aus Angola flüchtete und vom eigenen Betrieb träumt. © WR/Franz Luthe
"Die Nordstadt hatte immer schon ein schlechtes Ansehen – völlig unberechtigt!" Mutter Jutta und Tochter Katja Jendreiek arbeiten und leben in der Nordstadt. © WR/Franz Luthe
"Die Nordstadt hatte immer schon ein schlechtes Ansehen – völlig unberechtigt!" Mutter Jutta und Tochter Katja Jendreiek arbeiten und leben in der Nordstadt. © WR/Franz Luthe
"Ich wünsche mir einen Ort, an dem alle Kinder nach der Schule betreut und gefördert werden." Mustafa Güner arbeitet auf den Straßen der Nordstadt – als Taxifahrer. © Ralf Rottmann
"Die Nordstadt lehrt mich, die eigene Lebensrealität stärker zu hinterfragen", sagt Theater-Dramaturg Michael Eickhoff. © WR/Franz Luthe
"Die Nordstadt lehrt mich, die eigene Lebensrealität stärker zu hinterfragen", sagt Theater-Dramaturg Michael Eickhoff. © WR/Franz Luthe
"Die Nordstadt hat sich verändert, es ist lauter geworden und die Leute pöbeln auf der Straße rum." Ugur Kaya ist Vorsitzender des türkischen Gartenvereins „Yesil Bostan“. © Ralf Rottmann
"Die Nordstadt hat sich verändert, es ist lauter geworden und die Leute pöbeln auf der Straße rum." Ugur Kaya ist Vorsitzender des türkischen Gartenvereins „Yesil Bostan“. © Ralf Rottmann
"Die Nordstadt hat sich verändert, es ist lauter geworden und die Leute pöbeln auf der Straße rum." Ugur Kaya ist Vorsitzender des türkischen Gartenvereins „Yesil Bostan“. © Ralf Rottmann
"Es macht Spaß, hier zu arbeiten, weil die Leute super locker und sehr herzlich sind." Dirk Wolff betreibt einen Friseursalon an der Schützenstraße. © Knut Vahlensieck
"Die Menschen leben hier friedlich zusammen, trotz unterschiedlicher Nationalitäten und Mentalitäten." Die Mazedonierin Olja Krechar arbeitet für Kober als Dolmetscherin. © WR/Franz Luthe
"Die Menschen leben hier friedlich zusammen, trotz unterschiedlicher Nationalitäten und Mentalitäten." Die Mazedonierin Olja Krechar arbeitet für Kober als Dolmetscherin. © WR/Franz Luthe
"Die Menschen leben hier friedlich zusammen, trotz unterschiedlicher Nationalitäten und Mentalitäten." Die Mazedonierin Olja Krechar arbeitet für Kober als Dolmetscherin. © WR/Franz Luthe
"Ich mag Multi-Kulti, die Leute sind sehr offen. Gegen das schlechte Image muss man etwas tun", so Agim Jusufi, der ein Haus saniert hat. © WR/Franz Luthe
"Müll und Verwahrlosung sind überall ein Problem, in anderen Stadtteilen wird es nur besser verborgen." Manfred Solbach räumt auf, er entrümpelt Wohnungen. © Knut Vahlensieck
"Müll und Verwahrlosung sind überall ein Problem, in anderen Stadtteilen wird es nur besser verborgen." Manfred Solbach räumt auf, er entrümpelt Wohnungen. © Knut Vahlensieck
"Ich engagiere mich für mein Quartier, weil die Menschen nirgendwo sonst so offen und herzlich sind." Marlies Nordhoff betreibt mit ihrem Mann eine Fahrschule am Borsigplatz. © WR/Franz Luthe
"Ich engagiere mich für mein Quartier, weil die Menschen nirgendwo sonst so offen und herzlich sind." Marlies Nordhoff betreibt mit ihrem Mann eine Fahrschule am Borsigplatz. © WR/Franz Luthe
"Die Mallinckrodtstraße war früher so schön – heute ist es viel gefährlicher geworden." Manuel Teixeira ist Trainer einer portugiesischen Folkloregruppe. © PHOTOZEPPELIN.COM
"Die meisten, die hier wohnen, sind arbeitslos und haben kein Geld, um in die Kneipe zu gehen." Manni Piechota führte 15 Jahre lang das Brinkfoff’s Eck, jetzt den Dart-Club. © Ralf Rottmann
"Die meisten, die hier wohnen, sind arbeitslos und haben kein Geld, um in die Kneipe zu gehen." Manni Piechota führte 15 Jahre lang das Brinkfoff’s Eck, jetzt den Dart-Club. © Ralf Rottmann
"Hier in meinem Haus ist es alt und dreckig, eine gute Kulisse für Kunst." Nicole Pfeiffer lebt im Atelier-Haus. © WR/Franz Luthe
"Hier in meinem Haus ist es alt und dreckig, eine gute Kulisse für Kunst." Nicole Pfeiffer lebt im Atelier-Haus. © WR/Franz Luthe
"Hier in meinem Haus ist es alt und dreckig, eine gute Kulisse für Kunst." Nicole Pfeiffer lebt im Atelier-Haus. © WR/Franz Luthe
Die Vision der Professorin Christa Reicher für die Nordstadt: Die Leiterin des Fachgebietes Städtebau der Fakultät Raumplanung an der TU Dortmund beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Stadtteil. Sie erkennt Probleme, genauso wie Potenziale. Und sie blickt in die Zukunft. Darin sieht sie „ein lebendiges, urbanes Quartier“. Vorausgesetzt: die Stadt arbeitet an einer „ganzheitlichen Entwicklungsstrategie“.
Die Vision der Professorin Christa Reicher für die Nordstadt: Die Leiterin des Fachgebietes Städtebau der Fakultät Raumplanung an der TU Dortmund beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Stadtteil. Sie erkennt Probleme, genauso wie Potenziale. Und sie blickt in die Zukunft. Darin sieht sie „ein lebendiges, urbanes Quartier“. Vorausgesetzt: die Stadt arbeitet an einer „ganzheitlichen Entwicklungsstrategie“. © WR/Franz Luthe
Die Vision der Professorin Christa Reicher für die Nordstadt: Die Leiterin des Fachgebietes Städtebau der Fakultät Raumplanung an der TU Dortmund beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Stadtteil. Sie erkennt Probleme, genauso wie Potenziale. Und sie blickt in die Zukunft. Darin sieht sie „ein lebendiges, urbanes Quartier“. Vorausgesetzt: die Stadt arbeitet an einer „ganzheitlichen Entwicklungsstrategie“.
Die Vision der Professorin Christa Reicher für die Nordstadt: Die Leiterin des Fachgebietes Städtebau der Fakultät Raumplanung an der TU Dortmund beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Stadtteil. Sie erkennt Probleme, genauso wie Potenziale. Und sie blickt in die Zukunft. Darin sieht sie „ein lebendiges, urbanes Quartier“. Vorausgesetzt: die Stadt arbeitet an einer „ganzheitlichen Entwicklungsstrategie“. © WR/Franz Luthe
Ankündigungsfoto der Serie Gesichter der Nordstadt. Collage mit Fotos von Franz Luthe und Ralf Rottmann. Montage: Knut Vahlensieck
Ankündigungsfoto der Serie Gesichter der Nordstadt. Collage mit Fotos von Franz Luthe und Ralf Rottmann. Montage: Knut Vahlensieck © Knut Vahlensieck
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Was die Soziologen wissen ­wollen: Sind solche Viertel wie die Nordstadt soziale Sackgassen für die Abgehängten, die Verlierer, die Armen, die Fremden? Für all die Menschen also, die in der nachindustriellen Gesellschaft schlichtweg nicht mehr gebraucht werden? Oder sind diese Quartiere im positiven Sinne eher Durchgangsstation, die eine besser gebildete Generation auf ihrem Weg nach oben irgendwann wieder verlässt? „Integrationsschleusen“ nennen das die Wissenschaftler.

Integration durch Arbeit

Strohmeier hat da wenig Hoffnung. Armut vererbt sich, die ­Herkunft ist ein Stigma, das oft auch die Bildungskarriere blockiert. „Die Adresse der Kinder bestimmt mit einer Trefferquote von 80 Prozent, welchen Schulabschluss sie ­schaffen“, fand Strohmeier heraus.

Arbeit sei der entscheidende Faktor bei der Integration. Und Arbeit fehle eben für viele junge Migranten. Das sei der Unterschied zu den Zeiten der Schwerindustrie, als die Polen kamen, um mit den Deutschen in Zechen und an Hochöfen zu schuften.

Bildung und kluge Politik

Reiner Staubach ist da optimistischer. Der Stadtplaner und Experte für ­soziale Arbeit ist überzeugt, dass die Nordstadt sich am eigenen Schopf aus der Misere ziehen kann. Durch Initiativen, Jugendarbeit, Vereine im Kleinen, durch kluge Politik und Bildung im Großen.

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Die 40 Soziologen steigen wieder in den wartenden Bus. Vorbei am ehemaligen Straßenstrich, durch die Malinck­rodtstraße zum Nordmarkt, wo Frauen mit bunten Kopftüchern zum gewohnten ­Straßenbild gehören. „Hier ist der Arbeiterstrich“, zeigt Staubach. Er meint Bulgaren und Rumänen, die sich gegen Lohn tageweise verdingen. Spielhallen, Trinkbuden, Pizzerien, Handyläden, türkische Gemüsegeschäfte – so ein Viertel ist das. Wer kann, zieht fort. „Sozial selek­tiver Wegzug“, sagen die Sozio­logen. Wer bleibt, bleibt zurück.

Der Soziologen-Kongress:

  • Rund 2000 Experten nehmen bis Freitag an dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie teil, der an den Unis Bochum und Dortmund stattfindet.
  • Das Thema lautet „Vielfalt und Zusammenhalt“. Gemeint ist: Wie viel Unterschiedlichkeit verträgt die Gesellschaft, ist sie eher Bedrohung oder auch Chance?
  • Diskutiert werden zum Beispiel Probleme religiöser Vielfalt – Beispiel: Beschneidung – oder das Auseinanderdriften der ­Gesellschaft in Arm und Reich.
  • Gastland ist in diesem Jahr die Türkei, wobei auch nach dem Verhältnis von Türkeistämmigen und Deutschen gefragt wird.