Washington. . Welche Lektionen werden die USA aus dem Blutbad in einem Kino in Colorado ziehen? Natürlich werden wieder die bekannten Stichworte fallen: Soziale Ausgrenzung, psychische Krankhaftigkeit, Verführung durch Computerspiele und allüberall leicht verfügbare Gewaltdarstellung. Dabei brauchen die USA eigentlich eine Debatte über ihre menschenfeindlich laxen Waffengesetze.
Schon wieder ein selbst ernannter „Terminator“. Schon wieder eine kranke Seele, die sich in der Rolle des einsamen Rächers gefällt; verkleidet wie ein Bösewicht aus der Illusionsfabrik Hollywood. Nur 20 Meilen entfernt von Littleton, einem anderen Schauplatz der nicht enden wollenden amerikanischen Tragödien, hat ein 24-Jähriger den Schauplatz der Fiktion zum Ort der realen Katastrophe gemacht. Keine Schule, keine Universität war diesmal das Ziel des einsamen Amokläufers. James Holmes suchte sich den amerikanischsten Ort für Zerstreuung und Kurzweil aus, um der Welt seinen Namen einzustanzen: das Kino. „Bad Man“ statt „Batman“. Was für eine zynische Selbststilisierung.
Es wird jetzt wieder die große Debatte losgehen. Über charakterlich ungefestigte, vorzugsweise junge Männer im modernen Medienzeitalter, die ihre eigenen übermächtig gewordenen inneren Energien in den cineastischen Reflexionen über Gewalt wiedererkennen. Und schleichend in ihre eigene verbogene Lebenserzählung einfügen. Bis der innere Überdruss und Selbsthass so groß wird, dass diesen Zeitgenossen der blutige Ausbruch in die Wirklichkeit als einzige Lösung erscheint.
Auch werden wieder die bekannten Stichworte fallen: Soziale Ausgrenzung, psychische Krankhaftigkeit, Verführung durch Computerspiele und allüberall leicht verfügbare Gewaltdarstellung. Aber es wird wie immer sein: Einfache Erklärungen funktionieren nicht. Niemand wird in den Kopf von James Holmes gucken können, niemand verlässlich sagen können, wer und was ihn über welchen Zeitraum in eine Scheinwelt hat abdriften lassen, aus der er sich nur mit einem todbringenden Schnellfeuergewehr Marke AK 47 zu befreien können glaubte.
Vernunft in Sachen Waffenrecht ist in den USA nicht mehrheitsfähig
Welche Lektionen wird Amerika nun ziehen? Nach Massakern wie Columbine, Virginia Tech und jetzt Aurora? Wird es seine menschenfeindlich laxen Waffengesetze ändern? Leider nein. Es ist Wahlkampf in Amerika. Und die zwar einfühlsame, Gemeinschaftssinn stiftende, gleichwohl politische inhaltsleere Trauerrede, die Präsident Obama gestern spontan hielt, zeigt, was das bedeutet.
Niemand von Rang und Namen bei Demokraten wie Republikanern wird sich ernsthaft trauen, das in der Verfassung verbriefte Recht auf Waffenbesitz wirklich nachhaltig einzuschränken. Vernunft ist nicht mehrheitsfähig.
Der von Mythen umrankte Schusswaffenkult und die Lobbymacht der „National Rifle Association“ machen eine Reform unmöglich. Und das in einem Land, in dem jährlich 12 000 Menschen mit Schusswaffen getötet und 45 000 verletzt werden. In dem sich mehr als 17 000 Menschen jedes Jahr erschießen. In dem es mehr als 320 Millionen Pistolen, Gewehre und Revolver gibt. In dem die Waffenbranche jährlich vier Milliarden Dollar umsetzt. Die Logik vieler Amerikaner nach Katastrophen wie der in Colorado mutet schizophren an: Sie sprechen sich für (noch) mehr Waffenfreiheit aus.
Als die Kongressabgeordnete Gifford Anfang 2011 von einem Amokläufer fast erschossen worden wäre, gingen am Tag darauf in Arizona die Waffenkäufe um 60 Prozent nach oben; aus Angst vor denen, die in Washington die Gesetze machen. So wird es wohl auch diesmal sein. Dabei wäre das Blutbad im Kino Anlass genug für eine tiefe Selbstprüfung. Nie war ein heilsamer Schock für Amerika wichtiger als heute.
Tote bei Schießerei im Kino