Berlin. . Kurz vor der Fußball-EM forderten viele einen Boykott der Spiele durch deutsche Politiker. Nun, nach dem Einzug der Deutschen ins Viertelfinale, verstummt der Protest. Die Zeit der Zurückhaltung geht zu Ende. Und ein Trip zu einem EM-Spiel war für Merkel und Gauck immer eine Option.

Jetzt kennt er kein Halten mehr. Nachdem sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft für das Viertelfinale der EM qualifizierte, fliegt Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zum Spiel gegen Griechenland. Es trifft sich zwar gut, dass es in Polen, in Danzig, nicht in der Ukraine stattfindet. Aber auch sonst ist vom Protest nur wenig zu spüren. In Vergessenheit gerät der unerklärte Boykott und das Schicksal der inhaftierten Julia Timoschenko.

Kommt Deutschland ins Finale, dürften Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wohl in die ukrainische Hauptstadt Kiew reisen. Die Zeit der Zurückhaltung geht zu Ende. Noch kurz vor der EM hielten 74 Prozent der Deutschen ein Fernbleiben von Politikern bei den Spielen für angemessen. Bei der Eröffnung war der deutsche Botschafter der ranghöchste Vertreter.

Griechenland-Spiel ohne Kanzlerin

Wie verabredet, blieben europäische Spitzenpolitiker in der Vorrunde den ukrainischen Spielstätten fern. Merkel wie Gauck haben sich nicht gegen die Lesart gewehrt, sie wollten die EM in der Ukraine boykottieren. In Wahrheit legten sie sich jedoch nie fest. Merkel verwies nur auf ihren Terminkalender. Gauck sagte ein Präsidententreffen in der Ukraine ab, aber verknüpfte das nicht mit der EM. Insgeheim war ein Trip zur Sportveranstaltung stets eine Option, gern nach Polen.

Nun dreht sich die Stimmung. Stößt die DFB-Auswahl bis ins Halbfinale in Warschau vor, könnte der erste Fan im Land das Spiel im Stadion verfolgen. Merkel wird am 28. Juni beim EU-Gipfel erwartet. Für sie kommt frühestens das Finale infrage. Gauck und Merkel wollen sich abstimmen. Auf keinen Fall soll es so aussehen, als würde er sich auf ihre Kosten profilieren und umgekehrt.

Aus dem Kabinett redet über Julia Timoschenko nur noch Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Neulich erst war deren Tochter Jewgenija Gast der Justizminister von Bund und Ländern. Kabinettskollege Friedrich geht zur Tagesordnung über. Die Politik habe im Vorfeld der EM protestiert, „jetzt ist der Sportminister gefordert“, verkündete er unlängst.

Milde Opposition

Seine Chefin wird am Freitag in Danzig wohl fehlen. Merkel trifft sich am Abend in Rom mit den Regierungschefs von Italien, Frankreich und Spanien. Die Euro-Krise geht vor. Politisch aufgeladen ist das Spiel auch ohne Bilder von ihr auf der Tribüne. „Frau Merkel sei bereit. Du bist als Nächste dran“, titelte eine Zeitung in Athen. „Alle haben auf uns rumgehackt, das haben wir nicht verdient. Wir wollen mehr Respekt“, sagte der griechische Torwart Michalis Sifakis. Ob er nur den Respekt auf dem Platz gemeint hat?

Die Opposition in Berlin geht mit Merkel milde um. Der EU-Abgeordnete Werner Schulz von den Grünen empfahl ihr, nach Kiew zu fahren, aber Präsident Viktor Janukowitsch auf der Tribüne Paroli zu bieten. Was er genau von ihr erwartet, ist unklar: Soll die Kanzlerin buchstäblich auf Distanz gehen und einen Sitzplatz neben ihm verweigern? Soll sie Oppositionelle treffen? Oder einen orangefarbenen Schal - die Farben der Opposition - tragen?

Kohl traute sich als Erster in die Kabine

Die Sinnfrage stellt keiner mehr: Was haben Politiker im Stadion zu suchen? 1954 wäre Konrad Adenauer nicht auf die Idee gekommen, zum Finale nach Bern zu fahren. 20 Jahre später - in München - fehlten Kanzler Helmut Schmidt und Bundespräsident Walter Scheel schon nicht mehr. Immerhin war Deutschland Gastgeber der WM. 1986, nach dem Endspiel in Mexiko gegen Argentinien, kam es zum Tabubruch: Kanzler Helmut Kohl erschien in der Kabine. Seine Nachfolger Schröder und Merkel mochten erst recht nicht auf die werbewirksamen Bilder mit den Kickern verzichten. Zum WM-Finale 2002 flog Innenminister Otto Schily mit fast 90 Gästen nach Tokio.

Die Politik folgt gern Stimmungen. Da macht nicht mal Timoschenko eine Ausnahme. Gestern erst meldete sie sich im Gefängniskrankenhaus in Charkiw zu Wort: „Ich weiß, dass unser Team selbstlos und stark spielen wird. Jeder Ukrainer sollte die Mannschaft bei ihrem Spiel gegen England anfeuern.“ Und so ist der Fußball die beste Pille gegen die Krise, ob in der Ukraine, für die Griechen oder in Deutschland.