Brüssel. Martin Schulz (SPD), Ex-Aktiver bei Rhenania Würselen, Geißbock-Fan und Präsident des Europa-Parlaments, zu Ukraine-Boykott, Fan-Problemen, der Entwicklung des Profi-Fußballs und seiner unglücklichen Liebe zum 1. FC Köln.

Herr Schulz, Sie sind gehören zum Brüsseler Fanclub des 1. FC Köln. Motto: “Nicht schlechter als wie die Anderlechter” Typischer Fall von kölscher Realitätsverkennung: Anderlecht ist Meister, Köln ist abgestiegen!

Martin Schulz: Das größte Problem des 1. FC Köln ist derzeit die tiefe Enttäuschung seiner treuen Fans. Es gibt kaum einen Club, bei dem die Zugehörigkeit so tief sitzt - FC-Fan sein ist ein Seelenzustand, und das ist seit Jahren mit vielen Qualen verbunden.

Immerhin spielt Lukas Podolski nächstes Jahr in der Champions League. Ihr Ratschlag für den verlorenen Sohn, damit alles gut wird in der großen Stadt London?

Schulz: Er soll so bleiben, wie er ist! Die Engländer lieben authentische Charaktere, und wenn der Lukas Lukas bleibt, wird er die Herzen der Engländer gewinnen.

Läuft's denn wenigstens ordentlich bei Ihrem alten Verein Rhenania Würselen?

Schulz: Die sind in der Kreisliga A im oberen Tabellendrittel - besser als in den letzten Jahren!

EU-Währungskommissar Olli Rehn, politisch ein Liberaler, hat uns erzählt, im Fußball sei er “Romantiker”. Wie steht es mit dem Sozialdemokraten Schulz?

Schulz: Ich bin im Fußball eine treue Seele – deshalb halte ich auch in der zweiten Liga dem Geißbock die Treue.

Wie oft schaffen Sie es noch persönlich auf den Platz?

Schulz: Fast gar nicht mehr. Im April war ich für die Kampagne „Profifußball gegen Hunger” bei Dortmund gegen Stuttgart – das beste Spiel, das ich seit langem gesehen habe. Aber Fußball findet vorwiegend statt, wenn einer wie ich noch einen Rest Familienleben hat.

Mitte der siebziger Jahre mussten Sie als hoffnungsvoller linker Verteidiger wegen einer Knieverletzung aufgeben. Seither hat sich der Profi-Fußball zu einer der umsatzstärksten Branchen der Unterhaltungsindustrie entwickelt. Was begrüßen Sie, was lehnen Sie ab?

Schulz: Nur zur Klarstellung, weil das Gerücht umläuft, ich hätte vor einer Profi-Karriere gestanden: Ich war 1972 mit der B-Jugend von Rhenania Würselen westdeutscher Vize-Meister. Das war ein Riesenerfolg – aber für Profifußball hätte es bei mir nie gereicht. Das war ein Traum, aber so gut war ich nicht …

.. soweit das Biographische …

Schulz: … was das Politische anlangt: Fußball hat eine enorme integrierende Wirkung in der Gesellschaft. Viele Milieus, nicht nur berufliche, haben sich aufgelöst, die Menschen suchen nach neuen Identifikationsfeldern. Die finden sie unter anderem in Stadien wie in Köln oder Dortmund, und im Fan-Dress sind alle gleich. Was mir Sorgen bereitet, ist der Druck, den die Clubs auf die Öffentliche Hand ausüben. Die soll nicht nur für Sicherheit sorgen, sondern auch Risiken tragen, die die Vereine ganz alleine übernommen haben. Das regt mich auf! Außerdem ist das Finanzgebaren oft sehr undurchsichtig

EU-Parlamentspräsident Schulz befürwortet Financial Fair Play 

In Sachen Schuldenbremse ist der Fußball der Politik ja ein Stück voraus. Was Merkels Fiskalpakt bei der EU, ist bei der Uefa Platinis Financial Fair Play: ein automatisches Schuldendrosselungsprogramm. Wird das funktionieren?

Schulz: Das hoffe ich. Ich halte diese Initiative für richtig - wenn sie denn tatsächlich darauf abzielt, einem Finanzgebaren ein Riegel vorzuschieben, das weder den „normalen Fans“ vermittelbar ist, noch den grundlegenden Prinzipien von Chancengleichheit und Wettbewerb entspricht. Wie ich höre, hat die Uefa jetzt schon mal eine Art Exempel statuiert und hochverschuldeten Traditionsklubs wie Glasgow Rangers und Besiktas Istanbul die Teilnahme an der bevorstehenden Europapokal-Saison verweigert. Ich bin allerdings nicht sicher, ob die frühestens ab 2014 geltenden FFP-Regelungen nicht durch sehr großzügige Übergangsbestimmungen aufgeweicht bzw. von cleveren Finanzexperten der Großklubs ausgehebelt werden können.

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Die Mischung aus Privat-Fernsehen, Bosman-Urteil und Binnenmarkt hat dafür gesorgt, dass jeder gegen Gebühr „alle Spiele, alle Tore” sehen kann. Zugleich sind die Özils und Messis mit Anfang, Mitte zwanzig Multimillionäre. Verdienen die Stars zu viel?

Schulz: In der Unterhaltungsindustrie wird halt viel Geld gezahlt. Es gibt 25-jährige Sänger oder Schauspieler, die ähnliche Summen bekommen. Und manche Top-Fußballer beeindrucken mich durchaus auch als Persönlichkeiten. Die Top-Gehälter bekommt ja nur, wer sich Tag für Tag enorme Disziplin abverlangt. Hinzu kommt der gewaltige öffentliche Druck, dem sie standhalten müssen.

Die Stars sind Söldner, die Fans verlangen emotionale Identifikation mit dem Verein. Wie geht das zusammen?

Schulz: Gar nicht! Lukas Podolski steckte über Jahre im Zwiespalt zwischen der Identifikation mit seinem Verein und seiner Stadt und der Herausforderung, als Spitzenmann in einem Spitzenensemble zu spielen. Man kann nicht erwarten, dass die Jungs damit noch nach dem Motto '”Elf Freunde müsst ihr sein!” umgehen. Das ist eine Art Ballkünstlertum, das mit der alten regionalen Identität nichts mehr zu tun hat.

Eine fromme Illusion der Fans?

Schulz: Nein. Die regionale Identität existiert, und die Vereine leben vom entsprechenden Wunsch ihrer Fans. Nur – sie können ihn nicht mehr befriedigen, in dem sie rein regionale Truppen zusammenstellen. Aber: Eigengewächse im Team steigern die Faszination der Fans.

Je mehr Schickeria sich im VIP-Bereich tummelt, desto energischer pocht der “echte Fan” auf seine Rechte, zum Teil bis hin zu Feuerwerkskörpern, rassistischen Parolen und Verhaltensmaßregeln für frühere Schalker Torhüter. Wie viel direkte Demokratie braucht und verträgt der Fußball?

„Dialog an der Nahtstelle von Professionalismus und Fan-Erwartung nicht ausreichend“ 

Schulz: Wo der Professionalismus der Spieler und des Managements auf die rohe Emotionalität der Fans trifft, verläuft eine Bruchstelle, an der manche Vereine scheitern. Viel kommt auf die Fans selbst an. Viele sind hundert Prozent loyal, manche gnadenlos destruktiv. Die Fans wollen bei den Siegern sein. Man geht ins Stadion, um zu gewinnen. Das wird teilweise ins Extrem gesteigert, auch von den Vereinen selbst. Der Dialog an dieser Nahtstelle von Professionalismus und Fan-Erwartung wird nicht ausreichend geführt.

Der europäische Fußball schwächelt ausgerechnet da, wo seine größte Stärke liegt: beim Wettbewerb und der Ungewissheit des Ausgangs. Die Champions League machen Jahr für Jahr dieselben fünf, sechs Mannschaften unter sich aus. Eine Fehlentwicklung?

Schulz: Ich sehe nicht, wie man das System ändern könnte – Staatsintervention ist sicher keine Lösung. Möglicherweise wird das in einer richtigen Europa-Liga enden. Das muss keine Fehlentwicklung sein. Ich darf an die Ursprünge der Bundesliga erinnern. Die wurde nicht zuletzt eingeführt, weil Sepp Herberger bei der WM 1962 in Chile festgestellt hatte, dass Deutschlands Gegner mit Spielern aus einer nationalen Profiliga stärker waren als die Uwe Seelers bei uns, die mit ihrem HSV am Wochenende gegen Bergedorf 85 spielen mussten.

Auch in Europa sind schon Clubs in die Hände einzelner Investoren geraten. Was halten Sie von einem System wie in den USA, wo der Verein einen Besitzer hat, der ihn im Zweifel auch in eine andere Stadt verpflanzt?

Schulz: Das halte ich für undenkbar in Europa. Dann könnte der FC am Ende in Düsseldorf landen! Wir haben ja viele Katastrophen auf diesem Kontinent überstanden, aber das …

Die Fußball-Welt plagt sich in diesen Tagen mit der Frage nach dem rechten Umgang mit dem autoritär regierten EM-Mitausrichter Ukraine. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso boykottiert, Bayern-München-Präsident Uli Hoeneß empfiehlt ein kritisches Wort am Ort des Geschehens, wieder andere wollen Sport und Politik sauber getrennt halten. Was macht der Fußballfreund und EU-Politiker Martin Schulz?

Schulz: Wir sollten nicht ein ganzes europäisches Sportler-Volk zur Geisel nehmen für ein ungelöstes politisches Problem. Deshalb: Maximaler Druck auf die ukrainische Führung, aber nicht die letzte Konsequenz – Boykott – an den Anfang stellen. Dann hat die andere Seite keinen Grund, sich zu bewegen. Ich selbst habe alle Einladungen zu dieser EM abgelehnt - ich habe keine Zeit, schlicht und ergreifend.

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Wer wird Europameister?

Schulz: Deutschland hat gute Chancen. Wir haben seit langer Zeit mal wieder eine Mannschaft, die traditionelle Kampfkultur kombiniert mit einem hohen Maß an Technik. Und was ein mögliches Chelsea-Trauma einiger Bayern-Spieler angeht, vertraue ich bis zum 9. Juni auf Jogi Löws Motivationskünste.

Und wie viele Trainer verschleißt der FC bis zum Wiederaufstieg?

Schulz: Ich glaube, Holger Stanislawski passt zum kölschen Milieu. Köln ist ja eine norditalienische Stadt, wir Rheinländer sind spezielle Menschen. Was um den FC abläuft, ist eine lose verkoppelte Anarchie – da passt ein früherer Sankt-Pauli-Trainer gut rein!