Berlin.

Wahlrecht von Geburt an - das fordert Siegfried Stresing, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Familienverbandes. Im Interview mit DerWesten erklärt er, warum die Verfassungsänderung längst überfällig und für 14 Millionen Kinder und Jugendliche mehr als gerecht ist.

Eine neue Forsa-Umfrage hat nachgefragt: Was wünschen sich Eltern von der Politik. Das Ergebnis: Vieles woran die Parteien mit Vehemenz festhalten, geht Müttern und Vätern gehörig auf den Geist - wie etwa das föderale Bildungssystem oder die Familienförderung, die oftmals an den Bedürfnisse Familien vorbeigeht. Um den politischen Wünschen von Eltern und Kindern mehr Wucht zu verleihen - auch im Hinblick auf die Debatten um den demografischen Wandel, fordert der Deutsche Familienverband ein Wahlrecht von Geburt an:

Welche Idee verbirgt sich hinter dem Kinderwahlrecht?

Siefried Stresing: Die Forderung nach einem Kinderwahlrecht kommt durch die niedrigen Geburtenraten und die schwierige demographische Entwicklung natürlich zusätzlichen Schwung, weil jetzt deutlich wird, wie viel familienpolitisch im Argen liegt. Aber der wichtigste Grund für ein Kinder-wahlrecht ist die Durchsetzung eines wirklichen allgemeinen Wahlrechts und die Notwendigkeit, der Zukunft eine Stimme zu geben. Denn im Moment sind 14 Millionen Kinder und Jugendliche und damit ein Fünftel aller Staatsbürger vom Wahlrecht als wichtigstem staatsbürgerlichem Recht ausgeschlossen.

Was ist der Unterschied zwischen Kinder- und Familienwahlrecht?

Stresing: Mit dem Begriff Familienwahlrecht verbinden viele das sogenannte originäre Elternwahlrecht, bei dem Eltern für jedes Kind eine eigene zusätzliche Wahlstimme bekommen. Ein solches Mehrstimmenwahlrecht für Eltern ist zu Recht sehr umstritten. Beim Kinderwahlrecht handelt es sich im Unterschied dazu um ein Wahlrecht von Geburt an, bei dem das Kind selbst das Wahlrecht erhält. Die Eltern nehmen dieses Recht nur stellvertretend wahr, bis die Kinder alt genug sind, selber ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Die Eltern haben also kein zusätzliches Stimmenrecht, sondern üben das Wahlrecht ihres Kindes treuhänderisch aus und müssen sich dabei allein am Wohle ihres Kindes orientieren.

Welchen Entwicklungsprozess hat das Kinderwahlrecht bereits hinter sich?

Stresing: Die Forderung nach dem Wahlrecht für Kinder gibt es schon seit den frühen 70er Jahren, und es wird inzwischen von hochrangigen Politikern und Rechtexperten wie Alt-Bundespräsident Roman Herzog, der ehemaligen Bundesfamilienministerin Renate Schmidt oder dem prominenten Verfassungsrechtler Paul Kirchhof gefordert. 2003 wurde dann erstmals über die langjährige Forderung des Deutschen Familienverbandes im Bundestag de-battiert. Inzwischen setzen sich erneut Abgeordnete für die Einführung des Wahlrechts von Geburt an ein, unter ihnen mehrere Bundestagsvizepräsidenten. Das ist bereits ein riesiger Erfolg, gerade weil hinter dieser Forderung nicht nur eine einzelne Partei, sondern eine par-teiübergreifende Initiative steht.

Was passiert, wenn sich die Eltern nicht auf eine einheitliche Stimmabgabe des Kindes einigen können?

Stresing: Das ist kein unlösbares Problem: Ein einfach handhabbarer, von Rechtsexperten geprüfter Vorschlag ist zum Beispiel, Mutter und Vater pro Kind je eine halbe Stimme zu geben. Aber letztlich handelt es sich dabei um Fragen der technischen Durchführung. Zuerst einmal geht es darum, die Grundsatzentscheidung zu treffen und in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittel-Mehrheit für das Wahlrecht von Geburt an zu erreichen. Dann müssen und können gute Lösungen für Durchführungsfragen gefunden werden. Man muss es nur wollen.

Wie kann gewährleistet werden, dass die Eltern tatsächlich im Interesse ihrer Kinder wählen?

Stresing: Schon jetzt handeln Eltern Tag für Tag und in vielen wichtigen Lebensbereichen als verantwortliche Interessenvertreter ihrer Kinder, zum Beispiel wenn es darum geht, Entscheidungen über den Bildungsweg zu treffen. Der DFV ist davon überzeugt, dass Eltern die besten Treuhänder ihrer Kinder sind. Dieses Vertrauen in die Familien hat übrigens auch das Grundgesetz, das den Eltern in Artikel 6 die Erstverantwortung für die Erziehung der Kinder zuspricht.

Ist die bewusste Wahlteilnahme der Kinder nicht in einem großen Maße abhängig von der politischen Erziehung durch die Eltern?

Stresing: Ganz unabhängig davon, dass auch bei Erwachsenen das Wahlrecht nicht von Bildung und Wissensstand abhängt: Der Wunsch, sich mit wichtigen politischen Fragen auseinanderzusetzen und informiert Verantwortung zu übernehmen, wächst bei Kindern und Jugendlichen mit dem Alter. Das Wahlrecht von Geburt an, das zunächst stellvertretend von den Eltern wahrgenommen wird, bietet anders als andere Modelle genau die Chance, Kinder in diese politische Neugier und Eigenverantwortung hinein wachsen zu lassen, ohne sie vom Wahlrecht auszuschließen. Und gerade die Auseinandersetzung mit der Wahlentscheidung ist zugleich beste angewandte Staatsbürgerkunde.

Wie sollen Kinder in so jungen Jahren fähig sein, Politik einschätzen zu können?

Stresing: Kinder entwickeln sich unterschiedlich, deshalb ist es kaum möglich, eine für alle geltende Altersvorgabe zu machen. Einen guten Anhaltspunkt bietet aber das Bürgerliche Gesetz-buch. Hier ist in § 1626 vorgesehen, dass Eltern mit dem Kind je nach seinem Entwicklungsstand wichtige Fragen der elterlichen Sorge besprechen und einvernehmliche Entscheidungen anstreben und dabei die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen. Das Gleiche lässt sich auch auf Entscheidungen über die Stimmenabgabe anwenden.

Gibt es nicht die Gefahr der Stimmenmanipulation durch die Eltern?

Stresing: Natürlich kann keiner garantieren, dass Eltern immer „das Richtige“ wählen. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass Menschen, die die Interessen ihrer Kinder und damit der nächsten Generation im Blick haben, eher zukunftsorientierter wählen als andere. Hinter dieser Angst vor Manipulation steckt aber auch ein großes Stück Angst vor der Demokratie. Solche Befürchtungen gab es vor jeder großen Änderung des Wahlrechts, von der Abschaffung des Klassenwahlrechts nach Stand und Besitz bis hin zum Frauenwahlrecht – auch hier hieß damals das große Gegenargument, Frauen wären politisch zu leicht beeinflussbar. Diese Ängste muss man ernst nehmen und überwinden, aber sie dürfen nicht als Totschlagargument missbraucht werden.

Je mehr Kinder eine Familie hat, umso mehr Stimmen besitzt sie. Ist das nicht ungerecht?

Stresing: Im Gegenteil, dann erst wird es gerecht. Denn beim Wahlrecht von Geburt an erhalten nicht die Eltern mehr Stimmen, sondern das Kind erhält endlich, wie jeder andere Staatsbürger auch, genau eine Stimme. Ungerecht ist die Situation im Moment: Da haben Kinder und Jugendliche nämlich nur aufgrund ihres Alters gar keine Stimme und kommen an der Wahlurne überhaupt nicht vor, obwohl sie später einmal für die Entscheidungen gerade stehen, die heute getroffen werden und zum Beispiel den riesigen Schuldenberg abtragen müssen, der heute angehäuft wird.