Karlsruhe/Essen. Das Empörungspotential ist groß. Vier ehemalige Sicherungsverwahrte haben dagegen geklagt, weil sie zu lange im Gefängnis gesessen haben. In einem ersten Urteil muss Baden-Württemberg ihnen nun 240.000 Euro Entschädigung zahlen. Was Sie über das Urteil wissen müssen.
Es ist ein Urteil mit Pilotcharakter: vier Sexualstraftäter, die jahrelang im Gefängnis gesessen haben, erhalten zusammen vom Land Baden-Württemberg 240.000 Euro Entschädigung, weil ihre nachträglich beschlossene Sicherungsverwahrung rechtswidrig gewesen ist. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Entscheidung des Karlsruher Landgerichts.
Wer hat geklagt?
Bei den vier Männern handelt es sich um Sexualstraftäter. In den 1970er und 1980 Jahren haben sie unabhängig voneinander Frauen vergewaltigt und sexuell genötigt - in einem Fall sogar versucht umzubringen. Die heute zwischen 55 und 65 Jahre alten Männer wurden zu fünf bis 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Sie hatten ihre Strafe in der JVA Freiburg verbüßt.
Warum haben Sie geklagt?
Bis zum Jahr 1998 galt in Deutschland für Sicherungsverwahrung die Höchstdauer von zehn Jahren. Unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder wurde die maximale Frist rückwirkend aufgehoben, so dass die Haftstrafen von Sicherheitsverwahrten immer weiter verlängert wurden. Die vier Kläger blieben nach Verbüßung ihrer Haftstrafen noch weitere 18 bis 22 Jahre in Sicherungsverwahrung. Im Jahr 2009 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, dass die Aufhebung der Höchstdauer von zehn Jahren für bereits verurteilte Straftäter gegen die Europäischen Konvention für Menschenrechte verstoßen hat. Die nachträgliche Verlängerung der Haftdauer war somit rechtswidrig. Im vergangenen Jahr hat sich das Bundesverfassungsgericht dieser Auffassung angeschlossen.
Um welche Summen geht es?
Die vier Kläger erhalten für die Zeit, die sie nach Auffassung der Gerichte zu lange hinter Gittern gesessen haben 73.000 Euro, 65.000 Euro, 53.000 Euro und 49.000 Euro - zusammen 240.000 Euro. Die Summe berechnet sich aus der Dauer der rechtswidrigen Unterbringung. Dabei legte das Landgericht einen monatlichen Betrag von 500 Euro zugrunde, den auch der Europäische Gerichtshof in vergleichbaren Fällen zuerkennt. Die Kläger hatten 25 bis 35 Euro pro Tag gefordert, was insgesamt eine Summe von 415.000 Euro bedeutet hätte.
Was sagen Experten zu dem Urteil
Der Strafrichter und Autor Thomas Ullenbruch gilt bundesweit als Experte für das Thema Sicherungsverwahrung. „Mich überrascht das Urteil nicht. Spätestens seit dem Straßburger Urteil 2009 war klar, dass der rechtliche Irrweg der unbefristeten Sicherheitsverwahrung auch finanzielle Konsequenzen haben wird.“ Auch wenn die Ängste innerhalb der Bevölkerung wegen der nach der Entscheidung freigelassenen Sexualstraftäter nachvollziehbar sei, halte sich die Bundesrepublik zu recht zu Gute, ein Rechtsstaat zu sein. „Wenn also festgestellt wurde, dass der Staat Menschen rechtswidrig die Freiheit entzogen hat, muss das ausgeglichen werden“, sagte Ullenbruch der WAZ-Mediengruppe. Dafür gebe es den Anspruch auf Wiedergutmachung.
Welche Folgen hat das Urteil?
Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Prozessbeobachter wie Ullenbruch erwarten, dass das Land Baden-Württemberg in Revision und bis zur letzten Instanz gehen wird - In diesem Fall der Bundesgerichtshof -, um eine bundesweit einheitliche Rechtsprechung zu erhalten. Ullenbruch schätzt, dass in Deutschland noch über 100 vergleichbare Fälle - in NRW nach Angaben des Landesjustizministeriums etwa 35 - von vor 1998 verurteilten Straftätern gibt, deren Sicherheitsverwahrung nachträglich verlängert worden ist. Diese hätten nach dem Karlsruher Urteil einen Anspruch auf Schmerzensgeld. Ein Richerspruch mit Pilotcharakter.
Wie ist die Rechtsprechung aktuell?
Das Verfassungsgericht hatte die unbefristete Sicherungsverwahrung für rechtswidrig, aber nicht für nichtig erklärt. Bis zum 31. Mai 2013 muss die Regierung eine Neuordnung der Gesetze vorlegen. Bis dahin gilt eine Übergangsregelung. So ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung für künftige Taten abgeschafft, kann aber noch für Taten bis Ende 2010 verhängt werden. Extrem gefährliche Straftäter dürfen weiterhin, aber nun unter strengeren Voraussetzungen länger verwahrt werden, andere mussten Täter seitdem freigelassen werden. In NRW gibt es laut Justizministerium keine dieser sogenannten "Altfälle", deren Freilassung aktuell im Raum steht. (mit dapd)