Dortmund. . Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, sieht Städte wie Dortmund oder Duisburg wegen der Sozialleistungen in der finanziellen Zwickmühle: Sie gäben einen Großteil ihrer Realsteuereinnahmen für diesen Zweck aus. Entspannt sieht es dagegen auf dem Arbeitsmarkt aus.

Heinrich Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, sieht Städte wie Dortmund oder Duisburg über­lastet, was die Zahlungen von Leistungen für Unterkunft und Heizung für Hartz-IV-Bezieher angeht. Sie gäben einen Großteil ihrer Realsteuereinnahmen für diese Zwecke aus, sagte er der WAZ-Mediengruppe. Alt nannte dies „einen Wahnsinn“. Er verlangt, öffentliche ­Mittel verstärkt in die individuelle ­Förderung von Langzeitarbeitslosen zu investieren.

Dies würde den Job­suchenden ermöglichen, mittelfristig auf eigenen Beinen zu stehen und die Kommunen zugleich auf Dauer von den enormen Soziallasten befreien. Nach einer Statistik der Bundesagentur für das Jahr 2010 gab die Stadt Gelsenkirchen 73,1 Prozent ihrer Realsteuereinnahmen für Leistungen für Unterkunft und Heizung aus. In Duisburg sind es 60,6 Prozent, in Mönchengladbach 53,7, in Dortmund 52,2, in ­Hagen 46,5 und in Essen 45,9 Prozent. Düsseldorf als Stadt mit hohen Steuereinnahmen und einer relativ niedrigen Arbeitslosigkeit muss nur 23,2 Prozent der Einnahmen dafür aufwenden.

Herr Alt, die europäischen Nachbarn ächzen unter der steigenden Arbeitslosigkeit. Deutschland steht besser da. Entspricht das der Wirklichkeit, oder ist das der schöne Schein bereinigter Zahlen?

Alt: Nein, das ist nicht der schöne Schein der Zahlen. Wir haben eine gesetzliche ­Definition, wie wir Arbeitslose zählen müssen. Daran halten wir uns strikt. Deutschland hat in den Jahren 2008 und 2009 eine hervorragende Krisenbewältigungsstrategie gefahren. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben sehr moderne Formen der Krisenbewältigung entwickelt. Die Bundesagentur hat sie durch Kurzarbeit unterstützt. Wir standen parat, als die Wirtschaft wieder angezogen hat. Das kam uns am Ende der Krise sehr zugute.

Ist die Ausweitung des ­Niedriglohnsektors der Preis oder lässt sich das auch ­wieder eindämmen?

Alt: Die Mindestlohndebatte zielt darauf ab. Dabei geht es nicht mehr um die Frage, ob wir Mindestlöhne brauchen, sondern wie sie definiert ­werden. Von der Idee, dass das der Bundestag macht, ist man wohl abgekommen. Also Lohnfindung nicht durch den Staat, sondern durch Arbeit­geber, Arbeitnehmer und ­Wissenschaft ähnlich einer Kommission nach englischem Vorbild.

Nicht flächendeckend, sondern branchenspezifisch?

Alt: Ja, in vielen Bereichen gibt es schon entsprechende ­Vereinbarungen.

Und wenn es mehr werden, ist das Problem gelöst?

Alt: Nein. Wir haben in NRW über 400 000 junge Leute unter 35 Jahren ohne Berufsausbildung in den Unternehmen. Diese sind als Ungelernte eher im Niedriglohnsektor ­beschäftigt. Wir sollten ihnen eine zweite Chance auf Aus­bildung geben. Dann kommen sie aus dem schlechteren Lohnsektor heraus. Wenn wir zehn oder 20 Prozent dafür ­gewinnen können, wären das 40 000 bis 80 000 Fachkräfte mehr in NRW. Das stünde dem Land nicht schlecht zu Gesicht.

Die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger sind ­erneut gestiegen. Das ­bedeutet einen Rückfall unter das Existenzminimum. Sind Geldkürzungen ­verantwortlich?

Alt: Der Gesetzgeber hat in der Grundsicherung bei bestimmtem Fehlverhalten Sanktionen vorgesehen. Rund 97 Prozent der Kunden verhalten sich ­regelkonform. Auch denen gegenüber ist es korrekt, dass wir bei den drei Prozent, die das nicht tun, die Sanktionen verhängen.

Warum gibt es mehr ­Sanktionen?

Alt: Hintergrund ist, dass wir aufgrund der guten konjunk­turellen Situation mehr Angebote machen konnten. Wir ­haben unsere Kunden häufiger eingeladen, und wenn der Einladung nicht gefolgt wird, sind Sanktionen zu verhängen. Das ist wie im Straßen­verkehr oder im Arbeitsrecht. Wer morgens zu spät kommt, ohne sich zu entschuldigen, kriegt auch eine Sanktion.

Sie nehmen viel Geld für die Wiedereingliederung in die Hand. Rechnet sich das, oder nutzen Firmen wie Amazon das aus, um billig einen ­saisonal höheren Arbeitskräftebedarf zu decken?

Alt: Amazon macht nicht nur Saisongeschäft und gehört, was die Beschäftigung angeht, zu den wachstumsstärksten Betrieben in Deutschland. Hier entstehen auch Dauerarbeitsplätze.

In welchem Verhältnis?

Alt: Amazon wird in diesem Jahr in Deutschland wahrscheinlich rund 20 000 Arbeitsplätze schaffen. Und wenn sie hier Langzeitarbeitslosen eine Chance geben, ist das begrüßenswert. Wenn wir allerdings nur Saisonbeschäftigte fördern würden, die nach dem Weihnachtsgeschäft alle ­wieder arbeitslos werden, dann müsste man noch einmal genauer hinsehen. Aber das tun wir und wir sind mit ­Amazon in guten Gesprächen.