Washington/Kandahar. . Robert Bales, der in Afghanistan vor zehn Tagen 16 Menschen, darunter neun Kinder, im Schlaf erschoss, kann sich nach den Worten seines Anwalts an kaum etwas erinnern. Seine Ehefrau entschuldigte sich unterdessen bei den Angehörigen der Opfer. Der Fall sorgt in Militärkreisen für Unruhe. Hunderttausende US-Veteranen leiden nach den Einsätzen im Irak und am Hindukusch an schweren psychischen Verwundungen. Sitzt Amerika auf einem Pulverfass?
Kann man als erfahrener Elitesoldat in aller Seelenruhe, wenn auch geringfügig alkoholisiert, in voller Montur, mit Nachtsichtgerät und geladenem Gewehr nacheinander in drei Wohnhäuser eindringen, eineinhalb Fußballmannschaften kaltblütig und teilweise im Schlaf erschießen, und sich am Ende an so gut wie nichts erinnern?
Glaubt man John Henry Browne, dem Anwalt des unter 16-fachem Mordverdacht stehenden amerikanischen Armee-Feldwebels Robert Bales (38), dann ist das möglich. Zehn Tage nach der beispiellosen Bluttat, die den auf der Zielgeraden befindlichen US-geführten Militäreinsatz in Afghanistan in das denkbar schlechteste Licht rückt, hat der renommierte Strafverteidiger aus Seattle gestern seinen vorläufig prominentesten Mandanten zum ersten Mal leibhaftig gesehen. In Fort Leavenworth im US-Bundesstaat Kansas, wo der 38-jährige Vater zweier kleiner Kinder seit dem Wochenende in unmittelbarer Nähe zu dem Wikileaks-Informanten Bradley Manning in einer Einzelzelle sitzt.
US-Soldat Bales kann sich an Massaker nicht erinnern
Nach der dreistündigen Unterredung gab Browne irritierend unterschiedliche Erklärungen ab. Im Interview mit dem Fernsehsender CBS sagte der Jurist, der zuletzt den so genannten Barfuß-Banditen Colton Harris-Moore und den Massenmörder Ted Bundy vertreten hat, Bales könne sich nicht an die Massentötungen erinnern, die ihm von mehreren Augenzeugen aus der Nacht am 11. März zur Last gelegt werden. In einer Pressekonferenz betonte er dagegen, Bales habe ihm über die Zeit „davor und danach“ einiges schildern können. Über die Erschießungsorgie selbst habe man aber noch gar nicht gesprochen. Stattdessen habe sein Mandant außerordentlich bewegend und für den Außenstehenden erhellend berichtet, wie es in Afghanistan zugehe. „Wirklich berührend“ sei das gewesen, sagte Brown. Details nannte er nicht. Nur dieses: Die von Regierungsstellen via „New York Times“ lancierte Information, Bales habe vor seinem Amoklauf nennenswert Alkohol getrunken, sei falsch. Bales will also nüchtern gewesen sein, als er neun Kindern, die zum Teil im Alter seiner eigenen Sprößlinge Quincy und Bobby waren, den Gewehrlauf in den Mund rammte oder an den Kopf hielt, abdrückte und später versuchte, die Leichen zu verbrennen.
Am Donnerstag oder Freitag dieser Woche, so berichten Experten aus dem Verteidigungsministerium, werden Bales, einem in Ohio geborenen früheren Börsenmakler, in einem militärgerichtlichen Vorverfahren die möglichen Anklagepunkte verlesen. Kernstück: 16-facher Mord. Browne rechnet nach eigenen Worten mit dem Schlimmsten, sprich der Todesstrafe. Um das abzuwenden, setzen er und der dem Beschuldigten zugeordnete militärische Pflichtverteidiger, Major Thomas Hurley, auf die Mitschuld des Militärs. Stichwort: Dienstunfähigkeit. Die Erfolgsaussichten sind zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss.
Ehefrau bittet um Verständnis für "Sergeant Psycho"
Bis es zu einem endgültigen Militärgerichtsverfahren in den USA kommt, das Drängen der afghanischen Regierung auf einen Prozess am Ort des Geschehens war vergebens, können viele Monate vergehen. Ein Urteil kann Jahre dauern. Dass tatsächlich die Todesstrafe verhängt und exekutiert wird, gilt unter Militärjuristen schon heute als unwahrscheinlich. Der letzte Fall liegt 51 Jahre zurück. Wegen Gräueltaten an Zivilisten im Irak und in Afghanistan hat die US-Army zwischen 2001 und 2011 insgesamt 44 Soldaten angeklagt, 36 wurden verurteilt, acht freigesprochen.
Bales Ehefrau, Karilyn, hat den Angehörigen der Opfer aus dem Panjwai-Distrikt in der Süd-Provinz Kandahar in einem sehr persönlichen offenen Brief ihr Beileid ausgeprochen. Sie und die gesamte Familie seien „tief traurig“ über das was geschehen ist. Was sie über ihren Gatten habe lesen müssen, darüber hinaus wisse sie nichts, habe nichts mit dem „Charakter des Mannes zu tun, den ich kenne und bewundere.“ An die Medien, die vereinzelt von „Sergeant Psycho“ sprechen, richtete sie den Appell, Verständnis aufzubringen für das „Trauma“, das Robert Bales in der Familie ausgelöst habe. „Ich will auch wissen, was passiert ist und wie es passieren konnte.“
Doch keine blindwütige Frusttat
Der Vermutung, dass der blindwütige Ausraster unmittelbar mit der schweren Verletzung eines Kameraden zusammenhing, der nach einer Explosion durch einen von Aufständischen gelegten Sprengsatz ein Bein verloren hatte, hat der mutmaßliche Täter selber den Boden entzogen. Nach Angaben seines Anwalts ereignete sich der beschriebene Vorfall zwei Tage, bevor Robert Bales nachts aufbrach und wehrlose Menschen erschoss.
Was Browne nicht davon abhält, seine Verteidigungs-Strategie bereits klar zu umreißen. Eine nicht rechtzeitig erkannte tiefe traumatische Störung, so sagte der viel auf Eigendarstellung Wert legende Anwalt zwischen den Zeilen, sei der wahrscheinlichste Grund, warum der nach drei schwierigen Irak-Einsätzen (mit Hirnverletzung und Verlust des halben Fußes) bis dahin bestens beleumundete Bales in der Nacht zum 11. März in einem Dorf im Süden Afghanistans alle militärischen und menschlichen Normen ignorierte und sich wie ein wild gewordenes Tier gebärdete. Mit anderen Worten: die Armee als Arbeitgeber ist aus Brownes Sicht mitschuldig daran, dass einer der Ihren so extrem ausrastete, wie es seit dem Massaker von My Lai im Vietnam-Krieg kein zweiter US-Soldat getan hat.
Viele US-Veteranen sind seelisch verkrüppelt
Selbst wenn Brown der Nachweis seiner These vor dem Militärgericht nicht gelingen sollte, so lenkt der Fall die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das Amerika in den kommenden Jahren nach Ansicht von Experten vor gewaltige Probleme stellen wird. Es geht um das Ausmaß der psychischen Langzeitverwundungen, vor allem posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und traumatische Hirnschädigungen (TBI), die viele Soldaten nach Beendigung der Kriege im Irak und in Afghanistan mit nach Hause gebracht haben.
Sich untersuchen zu lassen, wenn Angstgefühle übermächtig werden, wenn nach der Rückkehr ins zivile Leben hinter jedem Baum und in jeder Menschenmenge das Böse vermutet wird, gilt in Militärkreisen noch immer als Zeichen von Schwäche. Dabei sind die Alarmsignale unübersehbar. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein Irak- oder Afghanistan-Heimkehrer in den Vereinigten Staaten Amok läuft, weil die Wiedereingliederung in das behütete Leben daheim misslingt.
430 Psychiater für 550.000 Männer und Frauen
Mal sind es Wildfremde, die dabei sterben, wie im Januar, als in den Wäldern rund um den Mount Rainier in Washington State ein Irak-Veteran in Rambo-Manier tagelang um sich schoss, bevor er von Polizeischarfschützen getötet wurde. Mal ist es die eigene Familie, wie im Fall Abel Gutierrez, der in der vergangenen Woche erst seine kleine Schwester (11) und dann sich selbst erschoss. Berücksichtigt man dann noch, dass statistisch amtlich berechnet jeden Tag 18 Kriegsheimkehrer in den USA freiwillig aus dem Leben scheiden, wird die Brisanz überdeutlich.
Das Militär hat dem nach Meinung von Veteranenverbänden immer noch zu wenig entgegenzusetzen. Bereits im Einsatz selbst mangelt es an ausreichender Akut-Hilfe. Auf 550.000 Männer und Frauen in der Army kommen rund 430 Psychiater. In umkämpften Gebieten wie dem südlichen Grenzstreifen zu Pakistan, wo Tausende GI’s in improvisierten Außenposten jeden Tag abseits der Medien-Wahrnehmung Feindberührung und Todeserfahrung machen, verrichten die Militär-„Shrinks“ Arbeit am Fließband.
500.000 Veteranen seelisch verwundet
Bisher wurden rund 2,5 Millionen Männer und Frauen, Berufssoldaten, Reservisten und Nationalgardisten, am Hindukusch wie an Euphrat und Tigris eingesetzt; 100 000 allein in der Army zwei- oder gar drei Mal hintereinander. Wendet man die Ergebnisse einer bereits 2008 vorgelegten Studie der Rand-Corporation darauf an, leiden demnach rund 500 000 Veteranen an mehr oder weniger schweren seelischen Verwundungen. Wie viele es genau sind, sagt das Veteranen-Ministerium in Washington, „weiß niemand“.
Daheim kommt das Veteranen-Ministerium mit der Betreuung und Versorgung Zehntausender körperlich und Hunderttausender seelisch Versehrter kaum nach. Die Wartezeiten sind oft monatelang. Oft mit katastrophen Konsequenzen. Als ein 28-jähriger Feldwebel, der nach zwei Irak-Einsätzen als selbstmordgefährdet eingestuft wurde, erfuhr, dass sein Erstgespräch wegen Personalmangel gestrichen wurde, jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Hätte frühzeitige Hilfe Robert Bales von dem abhalten können, was in Kandahar geschah? Durfte er nach drei harten Einsätzen mit schweren Verwundungen überhaupt noch ein viertes Mal für sein Vaterland an die Front geschickt werden? Die Antworten darauf werden noch lange auf sich warten lassen.