Kandahar/Washington. Einen Tag nach dem Amoklauf eines US-Soldaten in Afghanistan mit 16 Toten gibt es Zweifel daran, ob es tatsächlich die Tat eines Einzelnen war. Gerüchten zufolge soll der 38-jährige Seargent zuvor einen Nervenzusammenbruch gehabt haben. Militär-Experten fürchten nun “erhebliche Schwierigkeiten“.

Besucher amerikanischer Militärbasen in Afghanistan, speziell im immer noch umkämpften Süden, kriegen schnell eine Ahnung davon, was hier unter Sicherheit verstanden wird: Zwei-, manchmal dreifache Sicherheitsschleusen mit schwer bewaffneten Soldaten, Kameras und Metall-Detektoren liegen zwischen draußen und drinnen. Raus geht man auch als Soldat nach aufwändigen Kontrollen tagsüber nur nach Voranmeldung in gepanzerten Konvois. Nachts herrscht in der Regel Ausgangssperre.

Vor diesem Hintergrund sind die Zweifel zu verstehen, die in Washingtoner wie Kabuler Sicherheitskreisen am Montag an der offiziellen Version des Einzeltäters geübt wurden, der nach vorläufigen Angaben des US-Militärs ein in zehn Jahren Afghanistan-Einsatz beispielloses Blutbad angerichtet hat.

Danach verließ der 38-jährige Sergeant aus einem Stützpunkt in der Nähe von Tacoma im Westküsten-Bundesstaat Washington nach Recherchen der “New York Times” in der Nacht zum Samstag um drei Uhr bewaffnet und in Uniform sein Lager in der Provinz Kandahar, suchte in Fußnähe zwei nahe gelegene Dörfer auf, ging von Haus zu Haus und erschoss 16 Menschen, darunter neun Kinder, im Schlaf. Anschließend setzte er einige der Leichen in Brand, ging zurück zur Basis und stellte sich freiwillig.

US-Soldat sollte gutes Verhältnis zur afghanischen Bevölkerung aufbauen

Was den seit elf Jahren der Armee angehörenden Vater zweier Kinder, der bereits im Irak und in Afghanistan stationiert gewesen sein soll, zu dem Amoklauf getrieben hat, ob er Helfer hatte oder Kameraden, die nur wegschauten anstatt ihn aufzuhalten, all das ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Washington Gegenstand intensiver Untersuchungen. Ebenso der Verdacht, der Mann habe vorher einen Nervenzusammenbruch erlitten. Fest steht, dass der Täter Mitglied einer Einheit war, die vertrauensbildend in die einheimische Bevölkerung hineinwirken sollte.

Nach Leichenschändungen, Koran-Verbrennungen und vielen tödlichen Kollateralschäden bei der Jagd nach Aufständischen stellt der von allen ranghohen US-Militärs bis hin zum Commander in Chief, Präsident Obama, bedauerte Vorfall einen neuen Negativ-Höhepunkt dar. Taliban-Vertreter schwörten am Montag, jedes einzelne Opfer zu rächen. Die US-Truppen haben in ganz Afghanistan zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen. Forderungen der afghanischen Seite, der Täter müsse vor ein heimisches Gericht gestellt werden, werden sich nicht erfüllen. Prinzipiell lassen die USA solche Fälle von der eigenen Militärgerichtsbarkeit regeln.

Experten in Washington rechnen nach dem Massaker mit einschneidenden Konsequenzen. Michael O’Hanlon vom Brookings-Institut erwartet “erhebliche Schwierigkeiten” bei den laufenden Verhandlungen mit der Regierung Karsai über ein Militärabkommen für die Zeit nach dem für 2014 vorgesehenen Truppenabzug. Über Monate mühsam aufgebautes Vertrauen werde durch solche Zwischenfälle mit einem Schlag zerstört. Jon Lee Anderson, Experte der Zeitschrift “New Yorker”, glaubt die amerikanische Präsenz am Hindukusch sei inzwischen vollends “toxisch” geworden. Rund 60 Prozent der US-Amerikaner halten nach einer aktuellen Umfrage von “Washington Post” und dem TV-Sender ABC den Afghanistan-Einsatz für verfehlt. Der Druck auf Präsident Barack Obama, die Soldaten früher als geplant abzuziehen, werde massiv zunehmen.