Washington. . Afghanischer Präsident will den Abzug internationaler Truppen bereits 2013 und schränkt ihre Befugnisse stark ein. Was Hamid Karsai jedoch antreibt, ist unklar. Experten sind sich einig, dass seine Regierung ohne ausländische Unterstützung nicht bestehen wird.
Leon Panetta war eilends nach Afghanistan geflogen, um die Wogen zu glätten nach dem Amoklauf eines hirnverletzten amerikanischen Scharfschützen, der statt des Feindes kaltblütig 16 unschuldige Zivilisten getötet hatte. Dass alle Entschuldigungen nicht fruchteten, dass sich hinter ihm eine Welle des Zorns bilden sollte, die gestern brach, konnte der US-Verteidigungsminister nicht unbedingt ahnen. Die kategorisch formulierten Forderungen des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai – keine US-Soldaten mehr im Anti-Terror-Kampf von Haus zu Haus, raus mit der aus 47 Nationen bestehenden Hilfstruppe schon 2013 – stellen das dar, was man in Washingtoner Polit-Zirkeln einen „game changer“ nennt: einen Schachzug, der alles verändern kann.
Karsai ändert alles
Zunächst das Kleingedruckte. Karsai verbietet den ISAF-Soldaten praktisch, ohne von afghanischen Behörden ausgestellte Durchsuchungsbefehle Häuser und Wohnungen zu stürmen; auf der Jagd nach Taliban und anderen Aufständischen. Damit sollen Massaker wie das in Kandahar, bei dem vor einer Woche insgesamt 16 Frauen, Männer und Kinder starben, verhindert werden. Die US-Truppen sollen sich auf ihre Stützpunkte zurückziehen. Militärisch wäre das die Konterkarierung des gesamten Einsatzes. Gerade die „Night Raids“, gezielte nächtliche Kommando-Aktionen auf Taliban-Nester, gelten als das Herzstück der Aufstandsbekämpfung „Made in USA“. General Mark Gurganus, Kommandeur der US-Truppen im Süden, winkt bereits ab. Weitere Einschränkungen bei der Bekämpfung von Aufständischen, sagte er der „New York Times“, seien nicht vertretbar.
ch schwerer wiegt die Tatsache, dass Karsai alle geltenden Zeitpläne für die Präsenz der ausländischen Truppen über Nacht über den Haufen geworfen hat. Die US-geführte ISAF-Truppe will bis Ende 2014 das Gros ihrer Kampf-Einheiten abziehen. Der Oberkommandierende in Afghanistan, General John Allen, begründet das mit der fragilen Sicherheitslage und dem noch immer unzureichenden Ausbildungsstand von afghanischer Armee und Polizei.
Der Abzug müsse „verantwortlich” über die Bühne gehen, erklärten am Mittwoch Präsident Barack Obama und der britische Premierminister David Cameron unisono in Washington. Andernfalls bestehe die Gefahr eines Rückfall-Risikos, das abermals ausländische Truppen am Hindukusch erfordere. Was niemand will. Karsais Behauptung, afghanische Sicherheitsorgane seien bereits im kommenden Jahr in der Lage, das Land in eigener Regie zu stabilisieren, wird in Washington wie Kabul als „wahrheitswidrig“ bezeichnet. In der Breite gilt der Ausbildungsstand der Sicherheits-Organe nach Einschätzung aller Experten mit Ortskenntnissen als bestenfalls unterdurchschnittlich. „Je eher die ausländischen Truppen gehen, desto schneller steht Karsai am Abgrund“, lautet die Analyse von Mitarbeitern mehrerer Denkfabriken in Washington.
Comeback der Taliban
Was den Präsidenten antreibe, welcher Strategie sein jüngster Sinneswandel folge, in der US-Regierung kann man sich darauf keinen Reim machen. Zu „sprunghaft“ agiere der im Land wegen seiner begrenzten Macht als „Bürgermeister von Kabul“ verspottete Paschtune. Vorletztes Beispiel: Ein Rat von Klerikern hatte Karsai kürzlich neue Verhaltensregeln für das Zusammenleben der Geschlechter vorgelegt. Danach sollte es Männern wieder erlaubt sein, ihre Frauen zu schlagen. Karsai stimmte zu. Ein Rückfall in die gesellschaftspolitische Steinzeit. Die Taliban zeigten sich zufrieden. Der Vorstoß liegt auf ihrer Linie. Sie wollen zurück an die Macht und haben das gestern demonstrativ klargemacht. Seit Monaten auch unter deutscher Hilfe angebahnte Friedensgespräche mit den Amerikanern in Katar wurden abgesagt. Erklärung eines Talibansprechers: „Zeitverschwendung.“